Vivian Polenz

Sprich Deutsch, wenn du mit mir redest!"

Als ich 4 Jahre alt war, strich ich meinen großen Sieg ein. Ein Gefühl voll Wärme und Stolz,

durchfloss meinen Körper. Vom Kopf bis zu den Zehen war mir schwindelig vor Glück. Endlich,

dachte ich. Endlich wird alles anders. Dieses kleine Gefühl von Wut, das sich immer wieder in mir

aufbäumen wollte, schob ich weg. Weit weg und sperrte es ein.

Als ich 4 Jahre alt war, liebte ich Pferde und Katzen. Ich liebte meine große Schwester und meine

Eltern. Ich liebte Pizzaboden ohne Belag und kalte Kapern. Ich liebte es zu reden und ich liebte

meine Murmeln. Ich konnte sie stundenlang anschauen und ich konnte sie stundenlang zählen. Bis

100 schaffte ich es schon mit nur wenigen Fehlern. Ich liebe Pierogen und ich liebte meine Tante

Momma, die mir immer polnische Lieder vorsang, während meine Mama nicht da war. Ich liebte

„Bolek i Lolek“. Das einzige, das ich überhaupt im Fernsehen schauen durfte. Ich liebe es mit

anderen Kindern zu spielen. Ich liebte es zu tanzen und zu malen. Ich liebte mein Leben und mich,

so wie es war.

Als ich 4 Jahre alt war, wusste ich nichts über meine Familie. Meine Mutter war meine Mama. Ein

Leben vor mir. Das gab es nicht. Ich wusste nichts über ihre Kämpfe. Ich wusste nichts über sie. Mit

4 wusste ich nichts.

Meine Mutter ist die schönste Frau, die ich kenne. Der stärkste Mensch dieser Erde. Meine Mutter

wuchs auf, da gab es nichts. Deutschland hatte ihr Land mal im Krieg in wenigen Tagen überrollt.

Zerstört und ausgebeutet. Es passierte so aus dem Nichts, so schnell, dass man den Fakt auch heute

eigentlich ständig vergisst. Und während es Deutschland 20 Jahre nach dem Krieg schon wieder

sehr viel besser ging, gab es in Polen zur selben Zeit noch nichts von alldem. Man könnte sagen,

das ist unfair. Aber dafür müsste man aufhören Polen ständig zu vergessen.

Meine Mutter hatte nicht viel, aber doch schaffte sie es schon als Kind aus Nichts alles zu machen.

Wenig Essen, kleine Wohnung. Zwei Zimmer für sechs Leute. Einen kleinen Bruder der immer

mitwill. Eine Mutter, die arbeitet. Einen Vater, der trinkt. Ein anderes Pärchen, das auch dort

mitwohnte. Jeden Tag Ungewissheit. Anstehen für Essen. Manchmal stundenlang und am Ende gab

es trotzdem zu wenig. Sie besaß eine Puppe und bunte Kristalle. Abfälle aus der Glasfabrik von

nebenan. Gesammelt in Dosen, ihr größter Schatz. Sie sammelte und sammelte und tauschte und

tauschte. Stifte und Hefte. Dann kam sie in die Schule und lernte und lernte. Trotz aller Umstände

bekam sie ein Stipendium nach dem anderen. Als ihre Mutter, meine Oma, nach Deutschland ging,

kam meine Mama mit. Sie blieb genau einen Sommer. Sie hasste es dort. Im Saarland. Die

Menschen schienen nicht zu sprechen, sondern zu bellen. „HASCHDE HUNGA?“ wurde sie

gefragt. Sie ging Spazieren. Die Wälder rochen nicht nach Wald. Sie rochen sehr rein. Jeder Baum

hatte eine Nummer. Der Wald wurde regelmäßig aufgeräumt. Kein Baum lag quer. Kein Gestrüpp

wuchs herum. Alles darin hatte einen Nutzen. Einen Sinn.

Sie erschien in der Schule mit Blumen im Haar. Einem neuen Kleid. Und einer Tasche mit

Glasscherben. Wunderschön. Die Lehrerin kam. Die Blumen mussten raus. Das Kleid war zwar

schön, aber die Kleider der anderen noch eleganter, noch feiner, noch reiner. Besser. Niemand

wollte Glasscherben tauschen. Sie sprach zwar schon Deutsch. Aber nicht gut genug.

Im Garten pflanzte sie sich ein paar Beete. Zarte Blümchen und ein wenig Gemüse. Kurz darauf

war alles zertreten. Gras. Sollte da hin. Wiese. Rasen. Ordentlich musste es sein.

Sie wollte nicht bleiben. Sie setze Himmel und Erde in Bewegung, sie wusste was sie wollte und

fuhr zurück in ihr Polen. Mit 12 allein im besten Mädcheninternat Warschaus. Streng Katholisch.

Keine Jungs. Keine Ablenkung. Ein neues Stipendium. Der Druck war groß. Doch meine Mutter

wollte bleiben. Sie kämpfte sich durch, fand Freunde fürs Leben und lernte und lernte. Sie begann

zu studieren und sie wurde Erwachsen. Sie bereiste die Welt. Sie lebte in Indien. Sie lernte Tanzen

und traf meinen Vater. Einen Deutschen. Aus dem Saarland. Natürlich.

Als ich vier Jahre alt war kam ich in den Kindergarten. Dort kannten sie kein „Bolek i Lolek“, keine

Pierogi und wenn ich „Pan Antonie“ sang, dann wurde ich nur angewiesen, es doch mal lieber mit

„Fuchs du hast die Gans gestohlen“ zu versuchen. Ich hasste die Strophe „sonst kommt dich der

Jäger holen, mit dem Schießgewehr“. Alle lachten und ich hasste diese Lieder. Ob die Kinder nett

waren, wusste ich nicht, denn sie ignorierten mich.

Aber ich wollte dazu gehören. Um jeden Preis. Zum Glück hat es nicht lange gedauert und ich fand

heraus woran es lag. Wir hatten einen Sitzkreis und sprachen über irgendwas. Was genau weiß ich

nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass das Thema lustig war, ich mitreden wollte und es irgendwann

aus mir heraussprudelte.

„Du sprichst Polnisch“, ermahnte die Erzieherin mich schnell und unverblümt. Die Kinder lachten.

Ein Mädchen sagte „Die redet immer so komisch.“ Was nicht stimmte. Polnisch fiel mir nur sehr

viel leichter als Deutsch. Aber ich konnte beides. Ein älterer Junge stimmte mit ein „Mein Papa sagt

die Polen klauen alle!“ Gekicher überall. „Popo Popoloch. Polen. Polen. Popoloch.“ Es ging noch

eine Weile so weiter. Bis die Erzieherin sich irgendwann räusperte und sagte „Nana“. Mehr sagte sie

nicht dazu.

Dann drehte sie sich wieder zu mir „Na dann komm schon. Erzähl uns doch was du sagen wolltest

nochmal auf Deutsch“.

Als ich 4 Jahre alt war bemerkte ich, dass die Welt Papa sprach. Ich sprach zu oft Mama und wollte

das nicht.

Als ich 4 Jahre alt war sprach ich ihn zum ersten Mal. Meinen Siegessatz. Ich stellte mich vor

meine Mama sagte ganz klar „Sprich Deutsch wenn du mit mir redest“. Ich sagte ihn nicht bloß

ein-, zwei- Mal. Ich sagte ihn jeden Tag. Wochenlang. Monatelang. Ein ganzes Jahr. Ich heulte, ich

schrie, ich stellte mich taub, ich blieb stur. Ich zwang sie dazu mit all meiner Kraft. Sie musste doch

erkennen, dass Polnisch falsch war. Nach fast einem Jahr gab sie auf. Sie sagte, es tut ihr weh, sie

kann nicht mehr. Sie möchte nicht mehr kämpfen. Wenn es das ist was ich will, dann will sie es

respektieren. Wir lagen in meinem Bett. Die Wand bunt bemalt von ihr. Eine große Sonne war

darauf, eine Wiese und ein Pony. Meine Bettwäsche blau, ein Schaukelpferd in der Ecke. Meine

Murmeln in vier Gläsern neben dem Bett. Sie weinte und ich. Ich blieb stumm. Einige Sekunden

lang Stille, Bachweh, ein Ziehen, aber dann jubelte ich. Danke. Danke. Danke Mama. Die Tränen

sah ich nicht. Wollte ich nicht sehen. Ich wollte ihr zeigen, dass es das ist was ich wollte. Ich wollte

mir zeigen, dass das ist was ich wollte!

Endlich, dachte ich. Endlich wird alles anders. Mit dieser Sprache. Diesem Land

Mit 14, lebten wir in einem großen Haus. Es war viel Arbeit. Deshalb hatten wir Hilfe. Eine

deutsche Putzkraft. Als meine Mutter das ihren polnischen Freundinnen erzählte jubelten diese laut

auf. Meine Mutter hatte es geschafft.

Doch nicht alle waren so begeistert, wie unsere Freunde.

Meine Mutter. Die Polin. Hatte deutsche Arbeiter. Die Leute waren empört. Ja, sie konnten es kaum

fassen und versuchten immer wieder es sich zu erklären. Es mir zu erklären.

„Das mit dem Geld. Wie kann das sein. Ich hab gehört sie hat mal einen alten Mann gepflegt, der ist

dann gestorben und hat ihr viel vererbt. So machen die das in Polen. Kommen nach Deutschland

und holen unser Geld.“ Sie lachte unzufrieden vor sich hin.

Meine Mutter kümmerte sich tatsächlich während ihrer Studienzeit um einen alten Mann. Aber zum

einen war er zu diesem Zeitpunkt noch am Leben und viel Geld hatte er auch nicht. Bloß ein

Zimmer in dem meine Mutter während des Studierens leben durfte.

„Das hat deine Mutter schon schlau gemacht. Erst durch deinen Vater Deutsche werden, dann den

Richard heiraten und seine Praxis auch noch abstauben. Dumm ist sie nicht deine Mutter!“

„Aber… Meine Mutter wollte doch nie nach Deutschland. Und die Praxis eröffneten die beiden

doch erst gemeinsam, nachdem sie bereits verheiratet waren.“

Jaja. Gelächter. Unvorstellbar. Sie wollte nicht nach Deutschland. Träum weiter.

Ein zweiter Versuch.

„Aber. Meine Mutter hat doch überhaupt keinen Deutschen Pass. Sie will auch gar keinen.“

Unvorstellbar. Keine Deutsche sein wollen. Was denkt sie wer sie ist?

Das Gehirn rattert. Eine Lösung muss her.

Aber natürlich. Das macht Sinn. „Wegen der Steuer nicht wahr? Ja klar, da muss sie natürlich

weniger Steuer zahlen.“

Unsinn. „Sie ist in Deutschland gemeldet und zahlt Steuern. Ganz normal wie jeder andere. Sogar

mehr als der Durchschnitt.“

„Naja, wenn man hier leben will, dann muss man halt auch Steuern zahlen. Da soll sie sich mal

nicht so anstellen. Obwohl. Das kennen wir auch ganz anders von den Polen. Nicht wahr?“

Ein beifallsheischender Blick in eine Runde, die uns mittlerweile ignoriert. „Hier. Wir hatten

nämlich auch mal einen Polen. Den Gregor zum Beispiel, der unseren Garten gemacht hat. Der hat

nie Steuern gezahlt.“

Der Gregor, den ihr unbedingt schwarz „haben“ wolltet. Weil er schneller und besser arbeitet und

ihr euch trotzdem ne Stange Geld spart? Ich brauch es nicht mal auszusprechen. Sie führt den

Gedanken von allein weiter aus.

„Schnell und fleißig. Das denkt man aber nur einmal von den Polen. Nicht wahr? Ne, der hat nur

rumgesessen. Ein Träumer. Und ständig kam der mit seinen Schuhen reingelatscht und hat sich

Kaffee geholt. Kein Feingefühl hatte der. Wasser stand immer vor der Tür, aber der immer mit

seinen Schuhen durch die ganze Wohnung, schön zu Kaffemaschine und sich selbst bedient. Wenn

man einen Polen bei sich arbeiten lässt, ist das fast mehr Arbeit, als es gleich selbst zu machen, so

viel muss man den überwachen. Dass der auch wirklich was schafft und nichts mitgehen lässt.“ Sie

lacht wieder, „Ach, wie auch immer. Ist schon ne schöne Frau deine Mutter. Kein Wunder, dass das

bei ihr so läuft.“

Ich wusste nicht was ich darauf noch antworten sollte und blieb stumm.

Mit 14 wurde ich gefragt was für einen Akzent meine Mutter hat und woher sie stammt. Ich

erinnere mich gut an das leichte Schockgefühl. Akzent? Meine Mutter?

Es ist schwer zu glauben, aber bis dahin war mir nicht aufgefallen, dass meine Mama anders sprach,

als andere Eltern. Meine Mutter hatte einen Akzent.

Ab dem Moment konnte ich ihn nicht mehr überhören. Er begann mich zu nerven.

Ich korrigierte ich meine Mutter immer häufiger. Was andere lustig fanden machte mich wütend.

Statt Puderzucker sagte sie Zuckerpuder. Statt Schneeflocken, Flockenschnee. So schwer konnte das

doch nicht sein. Und ihr Akzent schien ihr vollends egal zu sein. Ich sprach ihr die Wörter vor. Nein

Mama. So muss das klingen. Doch es brachte nicht viel.

Mit 14 war ich mit meiner Mama in Polen. Ich sah meine Tanten und aß Pierogi bis ich Bauchweh

bekam. Es gab unglaublich viel Essen. Ich verstand zwar nicht mehr viel, aber die Sprache klang

schön und ich fühlte mich geliebt. Ich hörte meine Mutter reden. Laut und schnell und glücklich.

Ohne jedes Zögern. Schlagfertig. Ihre Freundinnen und sie lachten so viel. Die Stadt Danzig war

wunderschön. Die Masuren so grün und wild. Alle waren sehr herzlich. Eine Freundin meiner

Mutter, die mal für Polen bei Olympia startete, ließ mich auf ihrem Pferd sitzen. Einfach so. Ohne

lange drum herum zu reden. Ich lernte viele Menschen aus meiner Familie kennen, die ich zuvor

noch nie gesehen hatte. Und immer wieder gab es noch mehr Pierogen. Es war eine tolle Zeit.

Doch so richtig verband ich das Ganze nicht mit Polen an sich.

Als meine Mama mich nach dem Urlaub fragte ob ich nicht die doppelte Staatsbürgerschaft

annehmen wolle, lehnte ich entschieden ab. Wieso denn? Ich war Deutsche. Einfach nur Deutsche.

Es war schön dort, ja. Aber Polin sein? Das wollte ich nicht.

Mit 14 hörte ich doch immer wieder. Die Polen sind faul, die Polen klauen. Die Frauen sind schön,

aber mehr können sie nicht.

Mit 14 war ich froh. Puh. Polen. Polen. Popoloch. Zum Glück gehörte ich nicht dazu!

Dann war ich 24. Plötzlich selbst erwachsen. Selbst am Studieren. Mitten im eigenen Leben. Und

ich hörte ein Gespräch. Zufällig.

„Urlaub in Polen, was willst du denn da?“

Ich horchte kurz auf. Und erwartete meine eigene Standartantwort zu hören. Hab Verwandtschaft

da. Familienbesuch. Bleibe nur kurz. Tante Aja heiratet wieder.

Doch stattdessen kam was anderes.

„Ich wollte schon immer nach Polen und eine Freundin studiert jetzt da. Komm doch mit“ Und sie

erzählte weiter. Von den Bergen, den Seen, den Masuren, dem Meer, Danzig, den alten Städten, den

Menschen und dem Essen. Pierogi. Es war der Wahnsinn. Jemanden so sprechen zu hören. Über

Polen. Polen?

Dann war ich 24 und meine Mutter erzählte mir, dass eine ihrer besten Freundinnen aus Warschau

verklagt wird. Sie ist an einer einer Demonstration vorbeigelaufen, die sich dafür einsetzt

Abtreibungsregeln nochmal zu verschärfen, obwohl diese in Polen ohnehin schon EU-weit, mit zu

den härtesten zählen, und hat ohne groß nachzudenken statt ihres Namens das Wort „Kirche“ in die

Spalte eingetragen. Dafür drohen ihr nun im schlimmsten Fall einige Jahre Gefängnis und der

Verlust ihres Jobs. Sie ist Dozentin für Gender-Studies an einer der größten Universitäten Polens.

Etwa zur gleichen Zeit macht sich Polens Regierung gut daran fleißig die Gesetze so zu ändern,

dass sie immer stärker auf eine Diktatur zusteuern.

Nur wenige Monate zuvor wurde der Danziger Bürgermeister, einer der letzten wenigen ranghohen

Politiker, die sich getraut haben etwas gegen die aktuelle Regierung zu sagen, erstochen.

Ich erzählte einigen Freunden von den Ereignissen. Sie fanden das schlimm, zuckten mit den

Achseln und wechselten das Thema. Ist halt so in Polen. Als ich sage, dass Polen schließlich immer

noch eins unser Nachbarsländer ist, schaut einer kurz auf. „Polen grenzt an Deutschland?“, fragt er

in die Runde. Allgemeines Nicken. „Stimmt, jetzt wo ihr es sagt. Ich dachte immer das wäre

Tschechien“

Ich beschloss zu schweigen.

Dann war ich 24 und fand mich in einem Sprachkurs wieder. Polnisch A1. Ich saß in der ersten

Stunde und hörte der Dozentin zu. Viel bekam ich nicht mit. Mir war schwindelig und schlecht. Auf

dem Nachhauseweg brach ich in Tränen aus und war eine Woche lang krank.

Ein paar Tage später kam es mir aus dem Nichts hoch. Ich saß in der Uni-Kantine, als ohne direkten

Auslöser, Bilder und Worte auf mich einprasselten. Wie oft ich meine Mutter darauf hingewiesen

hatte, dass sie wieder was falsch ausgesprochen hat. Wie oft viel zu scharf korrigiert. Wie oft ich

Sprache als Waffe gegen sie verwendet hatte. Und wie oft ich sie verletzt haben muss, mit meinem

ewigen: Ich bin Deutsche. Mama. Nur Deutsch! Ich bin doch keine Polin! Was soll ich mit nem

polnischen Pass? Hat mit mir doch nichts zu tun. Wie oft ich die Identität meiner Mutter mal eben

so verleugnet habe.

Wie oft ich ihr gezeigt habe, dass ich diesen Teil von ihr ablehne. Meine eigenen Wurzeln ablehne.

Diesen Teil nicht haben will. Nicht wahrhaben will.

Mir wurde schlecht, eiskalt, ich begann zu schwitzen und konnte nicht atmen. Ich rief meinen

Freund an. Er konnte mein Problem nicht ganz verstehen. „Your mum knows that you didnt mean it

and you always loved her“, war alles was er mir sagen dazu sagen konnte. Er ist Australier, lebte am

anderen Ende der Welt und wollte gerade ins Bett gehen, als ich anrief.

Er meinte es ganz bestimmt nur gut, doch ich konnte nicht fassen, dass er mich nicht verstehen

wollte. Denn so fühlte es sich an. Er wollte mich nicht verstehen.

Und dann kam sie. Die Wut. Eine richtige Wut-Welle. Vielleicht war es dieselbe, die ich als 4

jähriges Mädchen so gut weggesperrt hatte. Denn diese Wut fühlte sich anders an, als sonst. Heißer.

Wilder.

Unkontrollierbar.

Mein Leben lang fühlte sich Wut für mich nur kalt und starr an.

Diese neue Wut kam so aus dem Nichts und traf mich unvorbereitet. Ich stand auf dem Uni Gelände

und brüllte meinen Freund am Telefon so an, wie ich noch nie jemanden angebrüllt hatte. Er wusste

überhaupt nicht was los war. Dann legte ich auf und rannte nach Hause. Ich trat gegen alles was ich

finden konnte. Ich war so wütend. Ohne zu wissen, woher die Wut kam. Aber sie fühlte sich gut an.

Es war mir egal, was die Leute über mich dachten. Ich war 24 und so wütend, wie noch nie in

meinem ganzen Leben.

Ich verstand die Welt nicht mehr. Meine Welt. Ich hasste mich. Verachtung gegen mich selbst. Und

doch. Es fühlte sich gut an. Dieser Hass fühlte sich berechtigt an.

Und die Wut auf mich selbst ließ nach. Langsam. Nach und nach. Konnte ich wieder klar denken.

Stand in meinem Zimmer. Wusste nicht wie ich dorthin gekommen war.

War ich Täter? Opfer?

Ist das wichtig?

Was hat mich dazu gebracht so zu ihr zu sein. Zu meiner Mutter? Meiner starken, schönen Mama,

die mich immer gefördert hat. Immer unterstützt. Die mich aufwachsen hat lassen in dem Gefühl,

wir wären reich. Die viel erwartet, aber noch viel mehr gibt.

Was bringt ein vierjähriges Mädchen dazu so etwas zu sagen? Sprich Deutsch, wenn du mit mir

redest. Zuckerpuder. Puderzucker. Ist doch scheißegal. Ich schämte mich.

Wieso sagte ich immer „Meine Mutter kommt aus Polen, aber…“?

Wieso?

Richtig Deutsch. Was soll das sein.

Warum war es mir so wichtig richtige Deutsche zu sein? Warum?

Warum war ich so hart zu ihr? Warum war ich so hart zu mir?

Die Angst. Nicht Deutsch genug. Zu sein?

Richtig Deutsch. Was ist das denn?

Will ich das überhaupt noch sein?

Fragen über Fragen.

In meinem Kopf ist Chaos.

Identitätschaos.

Aber eins weiß ich jetzt.

Richtig Deutsch.

Pah.