Noah Grossmann

Zwei Plakate im Hauptbahnhof, Frankfurt

Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer,

ich stehe also im Frankfurter Hauptbahnhof am Gleis 13. Sicherlich kennen Sie die großen Plakate, die dort auf Stehwände geklebt sind. Auf einer Grundfläche, da könnte sich jemand ein Zimmer einrichten. Sie sind zwischen den Gleisen positioniert. Wenn Menschen am Gleis stehen und warten, schauen ihnen von den Plakaten Models entgegen. Die Bahnreisenden nehmen Blickkontakt zu einer anderen, schönen Welt auf. Dank der Schönheit wissen die Bahnreisenden urplötzlich, worum es geht. Die Schönheit sagt: Hier wartet etwas Besonderes. Auf dich. Eigentlich sollte von diesen Fotos der Klimawandel den Menschen in die Augen blicken und sagen „Ich warte nicht auf dich. Ich komme schon.“ Welche Schönheit schafft das? Fühlbar zu machen, worum es beim Klimawandel geht. Erfahrbar zu machen, dass uns eine radikal andere Zukunft droht Von vielen Seiten wird versucht, das zu vermitteln, zu erklären mit Modellen, Grafiken und eindringlichen Reden. Dass es um uns alle geht. Aber diese Zukunft wird nur lebendig, wenn ‚das‘, also dieser Klimawandel, fühlbar wird. Wenn eine andere Zukunft auf einmal zur realen Möglichkeit wird. Das schafft Schönheit. Aber welche Schönheit schafft Derartiges für das größte und komplexeste Zukunftsproblem aller Zeiten?

Ich schaue wieder auf das Werbeplakat mir gegenüber. Schön ist es ja.

Ein, asphaltierter Platz ist darauf zu sehen. Er wurde schräg von oben fotografiert.

Er ist makellos, sauber und glänzt sanft. Das Bild wurde in den Abendstunden aufgenommen, lange Schatten geben Struktur und passen zu den weißen, fetten Linien des Parkplatzes. Eine Frau entfernt sich von einem mittig abgestellten Wagen in Richtung der Betrachtenden. Sie ist im Begriff, sich eine Jacke überzuwerfen. Es muss windig gewesen sein an diesem Tag, denn ihr satt-dunkelgrüner Blouson bauscht sich im Wind. Die Blickachse des Models läuft auf die Betrachtenden zu. Das leicht angedeutete Lächeln der Frau ist vor allem eins: siegesgewiss. Es ist der Ausdruck einer souveränen Eroberin, die das vor ihr Liegende fest im Blick hat. Auf allen Werbekanälen kann man derzeit elektrisch angetriebene Geländewagen bewundern, oder besser gesagt die Vereinbarkeit von Luxus und Verzicht. Der Blick der Frau ist diese real gewordene Vereinbarkeit. Hier am Bahnhof ist eine Zukunft verkörpert: Die Frau schaut aus ihr heraus auf den Bahnsteig. Zu ihren Füßen steht geschrieben: The future is now.

Die Möglichkeit des Wirtschaftswunders 2.0. ist in vielen Köpfen ziemlich real und das spricht für seine Schönheit. Aber vor allem spricht diese Zukunft der Eroberin eine Sehnsucht an: Wenn andernorts Ernteausfälle durch Dürre die ganz andere Zukunft des Klimawandels zur Realität werden lassen, glänzt gegen dieses Grausen die Eroberin auf dem Plakat an. Mir fallen die Bilder aus der Tagesschau ein: In den USA wird das trockenste Jahr des vergangenen Jahrhunderts viele Bauern im Westen des Landes in den Ruin treiben. Gleichzeitig sind im Süden Madagaskars nach Einschätzung des Welternährungsprogramms Ende Juli 2021 400.000 Menschen vom Hungertod bedroht. Dort begegnen Menschen dem Klimawandel mit dem Kampf ums nackte Überleben. Aber hier am Hauptbahnhof begegne ich einem goldenen Versprechen. The future is now. Das ist dort zu lesen und die eilende Frau mit dem Gewinner-Blick hat was ganz schön Großes und Wichtiges vor sich, das ist klar. Ihr sieht man an, dass es da was zu holen gibt in dieser Zukunft. Diese Haltung, die Pose des Models wurde wahrscheinlich in vielen neuen Anläufen mit neuen Lichteinstellungen penibel gesucht. Ich denke, es ist gelungen: Sie verkörpert diese Hoffnung und dieses Versprechen. Sie bannt die Gefahr und die Angst.

Diese Zuversicht für die Zukunft suchen wir in den Politprofis und Machtmenschen. Wir verfolgen gebannt ihre Anläufe, in Talkshows und auf Magazintitelseiten dieser Zuversicht Stimme und Gesicht zu geben. Wir verfolgen ihre Kampagnen, die darauf zielen, der dringend gesuchten Schönheit einen Körper zu geben. Am deutlichsten wird das, wenn im Laufe der Interviews eine kritische Nachfrage kommt: „Klappt das alles, reicht die Zeit, die Technik …?“ Dann wird tief eingeatmet und losgelegt. Über Machbarkeit lässt sich wunderbar reden. In diesem Land ist die Figur der Macherinnen und Anpacker die allerschönste. Im Rückblick sehen Trümmerfrauen und Anpacker besonders gut aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg tauchten Rettungswege auf: Möglichkeiten wurden von der Masse der Menschen erarbeitet. Das Trauma, das gefangen hielt, weggearbeitet. Der Weg zur Rettung war simpel: Während des ‚Wirtschaftswunders‘ stellten Arbeit und Einkaufen die Chancen dar, durch die Menschen frei werden konnten. Frei wurden von der Schuld und Last der Vergangenheit, um ihr Leben zu gestalten. Auf jeden Fall tat man das Richtige, wenn man Arbeit hatte und einkaufen konnte. Im Rückblick erscheint es unfassbar, wie klar und einleuchtend dieser Weg für alle war. Unfassbar, weil er heute fehlt.

All die klugen Modelle der Klimainstitute und Appelle zeigen Wirkung. All die Versuche, den Klimawandel wie einen riesigen Kometen zu modellieren, der auf die Erde zurast, funktionieren. Teilchen, Strahlung, Verkettungen, Gleichungen, viele Gründe, viele Kurven, sind wohlbekannt – also legen sich alle ihre Argumente zurecht und kämpfen verbissen um Deutungshoheit: Wenn beim Sommergrillen von der Arbeit die vegane Kollegin aus dem Außendienst kritisch herüberschaut und den eigenen Burger taxiert. Schnell die BIO-Packung sichtbar platzieren. „Aus der Region“ steht fett geschrieben. Ihr doppelt so teures Sojasteak hat sicher brasilianischen Regenwald auf dem Gewissen.

Solche kleinen Rettungen haben wir alle bitter nötig. 80% der Befragten gaben 2019 bei einer Umfrage an, der Klimawandel sei das drängendste Problem unserer Zeit. Und die Lösung kennen wir ja: arbeiten, ansparen, Lösung kaufen. Nach viel, viel Arbeit können sich dann die besagten Grillrunden in wertschätzenden Gesprächen über erforderliche Autokäufe und dringende Urlaube gegenseitig versichern: Unser Leben läuft gut, ja sogar besser, seit es das Klima-Update zu kaufen gibt. Für Zigarettenstummel gibt es jetzt sogar diese schicken mobilen Aschenbecher aus Edelstahl. Doch unter der Hoffnung glimmt eine latente Glut. Wenn die Gäste fort sind, blitzt das hitzige Gespräch mit dem Kollegen von letzter Woche wieder auf. Seine Anmerkungen zum Sojaanbau und kritischen Fragen zu Monokulturen sind wahrscheinlich nicht völlig von der Hand zu weisen … Und wo kommt eigentlich der Edelstahl her?

Die Erde vor einem Kometen zu retten, hat in diesem Hollywoodfilm sehr gut geklappt. Aber wenn wir alle dieser Komet sind? Wenn unser ganzes Leben ein einziger Komet ist, der in Madagaskar schon längst eingeschlagen ist? Die leise Stimme flüstert: All die Moore, Bäume und Solarpanels reichen nicht. Und die paar Bienen auf deinem Balkon? Dein Ernst? Es ist dein Wohnen, dein Tanzen-Gehen, Klamotten-Kaufen, Youtube-Videos-Schauen, Joggen mit Bluetooth-Kopfhörern, Tiefkühlfächer mit Bio-Himbeeren und Yogamatten aus brasilianischem Naturkautschuk. Aus jeder Pore unseres Alltags quillt Energie, alles pulsiert, strahlt von der Kohle, die für die Herstellung verbrannt wurde. Alles schwitzt und mein Thermomix glüht gewaltig. Plötzlich wird klar: Es war die ganze Zeit verdammt heiß, die Heizung war schon lange voll aufgedreht. Wir waren nur daran gewöhnt, dass einfach keine Rechnung kommt. Es war die ganze Zeit über heiß, bloß anderswo oder in der Zukunft. Aber erst ein gesellschaftliches Klima, das sich langsam drehte, lässt uns die Hitze unseres Lebensstils spüren. Nicht wirklich körperlich natürlich, wenn man die paar nervigen zunehmenden Tage im Jahr außer Acht lässt. Die Hitze entsteht zwischen all den pro- und kontra-Argumenten, zwischen der Frage, die ein Wort wie ‚Plastikverzicht‘ an den eigenen Lebensentwurf stellt und der Unsicherheit, was zu tun ist, wenn die Freundin den Kippenstummel auf den Bordstein wirft.

Da ist so viel Energie, so viel moralische Hitze in all dem. In all den Antwortversuchen, all dem Zurückstopfen, Zukleistern der eigenen Energiebilanz. So wird in einem Geflecht aus Meinungen, Routinen, Fragen und Emotionen die Zukunft bearbeitet, der rasende Komet zur Fackel einer Haltung, die den richtigen Weg weist. ‚Ich und der Klimawandel‘ – für viele Menschen in Deutschland ist diese Geschichte aus den letzten, sagen wir mal, zehn Jahren ihres Lebens eine Geschichte der Haltung, des angestrengten Versuchs, es richtig machen zu wollen. An anderen Orten hat der Klimawandel Menschen in einen Überlebenskampf geführt. Hierzulande führt er in ein Ethos. Also in die Aufgabe, für sich herauszufinden, wie richtiges Leben möglich ist.

Ich wandere mit meinem Blick über das Plakat und bin fasziniert von den geschwungenen Kanten des E-Autos. Die passenden Produkte in ihrem Universum aus Bildern, Stories, Likes und griffigen Formeln werden zu magischen gadgets. Sie nehmen uns auf direktem Weg mit in das richtige Leben. The future is now. Nebenbei wird eine gigantische Bedrohung gemeistert, die so niemals die Konturen eines realen Problems annimmt. Die Produkte, das Auto der Eroberin versprechen Zukunft als Chance und verbergen ihre Teilhabe am Problem permanent, indem sie sich erfolgreich als Lösung präsentieren. Was in diesem Kosmos unsichtbar wird, ist die fatale Tatsache, dass im Konsum- und Arbeitszirkel das Problem des Klimawandels auf eine Art erscheint, die alles andere als selbstverständlich ist: Hier erscheint das Problem als eines, das sich im Kaufen von Produkten lösen ließe. Was für eine Schönheit ist das?

Ich gehe ein paar Schritte in Richtung der Bahnhofsöffnung, wo die Gleise in die Ferne laufen und der Himmel über der Stadt zu sehen ist. Ich bleibe vor einem weiteren Plakat stehen. Dieses Foto wurde von unten geschossen. Dadurch erscheinen die beiden Models wie Statuen. Sie thronen über dem Gleis und schauen mit halb geschlossenen Lidern in die Linse. Die Frauen heißen Charlotte und Beate und sollen Mutter und Tochter darstellen. Die Tochter stemmt ihre zu Fäusten geballten Hände in die Hüften. Ihre Hüfte ist breit, ein Teil ihres Bauches ist zu sehen. Ihre Mutter schaut über ihre Schulter. Beide haben einen sehr ruhigen, festen Blick. Ihr Kinn scheint leicht gehoben. Die himmelblaue Hemdbluse und das grüne, geknotete Top tragen sie so stolz wie Paradeuniformen. „Here to stay“, steht in kräftigen Lettern auf der Pappe und damit sind ihre Körper gemeint: „Every. Body.“ steht darunter. Zwei dicke Frauen, zwei Kämpferinnen, die an der Front standen und nicht zurückgewichen sind. Viele weitere Bilder dieser Kampagne hängen in der Stadt, an jeder Bushaltestelle. Die Models sind so fotografiert worden, dass ihre Kämpfe schnell ins Auge fallen: zwei Männer, die sich küssen, ein Mann mit einem Armstumpf. Dicke, Schwule, Behinderte. Gewinner und Gewinnerinnen überall in der Stadt. Auf einem Plakat liegen zwei Frauen auf dem Boden. Über ihnen steht: „Sustainability. Here to stay“. Sie scheinen sich auszuruhen nach einem anstrengenden Kampf.

Alle diese Models verkörpern einen Kampf, der erfolgreich war. Einen Kampf, der sie stärker gemacht hat, stark genug, das Erkämpfte zu schützen. Inwieweit dies Kaufentscheidungen beeinflussen soll, wird erst auf den zweiten Blick klar: Der Name eines Mode-Versandhauses ist dezent in der rechten oberen Ecke platziert. So wird verständlich: Der Kauf des Produkts wird zum Erwerb einer Uniform, die endlich ausrüstet für den Kampf, der immer schon stattgefunden hat.

Stattgefunden haben diese Kämpfe auf der Straße, in Gruben, in besetzen Häusern, Zeitungsartikeln, Demonstrationen und Gefängnissen. Und die Wirkung dieser Kämpfe für Klima, Geschlechtergerechtigkeit, gegen Ausschluss hatte einen – vielleicht gewünschten – Nebeneffekt: ein um sich greifendes schlechtes Gewissen. Denn irgendwie sind wir ja fast alle Teil der Probleme. Obwohl man es ja gar nicht böse gemeint hat. Wie praktisch, dass hier im Hauptbahnhof eine versöhnliche Lösung angezeigt wird, ein Notausgang in den Trendfarben des Sommers. Gelingen, Sieg, Triumph. Schönheit überall und für alle verfügbar. Diese Schönheit ist verführerisch: Denn die Siegerfiguren am Hauptbahnhof zeigen den Kampf immer schon als gekämpften und legen ihre glänzenden Waffen in die Schaufenster. Das Versprechen ist simpel: Komm zum Triumphzug, wirf dich in Schale, es ist ungefährlich.  Kein Kampf, kein Konflikt, kein Leiden. Komm auf die sichere Gewinnerseite.

Wie eine ferne Erinnerung verblasst dagegen die Schönheit der Kämpfe, die in Wahrheit immer weitergehen. Diese Schönheit kann nicht gekauft, in den Kleiderschrank gehängt und auf instagram geteilt werden. Diese Haltung des Kämpfens lässt alles problematisch werden und Probleme kann man nicht besitzen. Denn sie zeigen an, dass etwas nicht so bleiben kann, wie es ist. Das Problem besitzt den, der es hat. Es treibt ihn vor sich her und drängt so zum Bruch mit dem Jetzt. Von der Frage des Kippenstummels über die Bulldozer in Stuttgart und Reutlingen, die im Juni Sturzbäche von Hagel und Starkregen beiseitegeschoben haben, während Autos in den Fluten versanken, bis zu der Initiative in einem hessischen Dorf, das die Holzreste des örtlichen Sägewerks so verbrennt, dass die erzeugte Nahwärme die Gas- und Ölheizungen der Gemeinde obsolet macht.

An dieser Schönheit ist nichts heroisch. Diese Haltung nimmt das Gegenwärtige nie einfach so hin, sondern rennt stur gegen das Problem des status quo an. Denn anderswo kann nicht mehr gekämpft werden. In Madagaskar lassen die Menschen Felder aus Staub zurück und fliehen nur noch. Diese Haltung muss also Probleme vor Ort suchen, hier in Deutschland aufspüren, wo andere nichts sehen. Und muss Konsequenzen ziehen. Die Konsequenzen laden ein zum Nachahmen. Sie sind nicht ohne Risiko, aber ergeben Sinn. Denn die Gefahren und Risiken des kleinen Kraftwerks im hessischen Dorf werden von der Gemeinschaft, nicht vom Einzelnen getragen.

Diese Schönheit droht, obwohl sie gelebt wird, unsichtbar zu bleiben. Das pausenlose Niederrieseln von Agenturbildern an den Hauptbahnhöfen dieser Welt betäubt unsere Sinne mit falscher Schönheit. So verkümmert unser kostbares Sensorium für eine Haltung, die eigentlich all unsere Aufmerksamkeit verdient. Eine Haltung, die eine gemeinsame Zukunft sucht; „stay here“, auf diesem Planeten. Und in ihrem ernsthaften, verbissenen und quälend langsamen Ringen andere einlädt mitzusuchen. Diese Schönheit vermisse ich im Hauptbahnhof in Frankfurt.