Nicole Collignon

Dinge, die passieren und passiert sind



Dies ist eine reine Textversion. Etwaige von dem oder der Autor:in vorgenommene Formatierungen können in dieser Ansicht leider nicht dargestellt werden. Die vollständige Darstellung des Textes findet man als Download über das Icon.




I: Ein Mädchen steht auf einer Beerdigung.

II: Eine Frau fischt mit dem Fangnetz ihres Kutters einen Hund aus dem oszillierenden Oberflächenlicht und geht mit ihm durch die Straßen. Er trägt nun ein Rautenmuster eingesengt ins Fell.

III: Alle Waldbrände stürzen sich ins Meer, um von roter in blaue Flamme umzuschlagen. Die Meere verbrennen und die Korallen vermischen sich mit verbranntem Holz. Es siedet.

IV: Eine Frau mit Hund fischt ein Mädchen aus der Beerdigung heraus. In ihrem Körper erkennt sie ein Netz, um das sich das Mädchen krümmt. Ihre Finger legen sich auf die Luft zwischen ihnen. Mit dem Zeigefinger und dem Daumen versucht sie die Maschen zu erhaschen.

V: Es kocht unter der Wasseroberfläche. Wasserkocher wirken kühlend entgegen dem Brennen hier, deswegen entschließt er sich, das Laichen zu lassen. Die Schuppen sich windend durch die Abflusskanäle nach oben, dringt der Fisch ein ins Labor und platscht in die Petrischale hinein. Menschliche Zellen vermengt mit Metall. Eine Hand im Nebenbad, Formaldehyd.

VI: Das Mädchen gießt Wasser in das braune Pulver. Ihre Hand hält den Plastikgriff und es dampft. Er steht hinter ihr, in ihrem Atem stockt es während seiner weitergeht zerläuft und wie eine Welle am Trommelfell zerplatzt. Er schluckt und das Netz wird enger als sie die Klebrigkeit seines Mundes hört, eine Menge an Saliva die da seinen Rachen herunterplatscht und in ihrem Bauch landet. Sie dreht sich um und sagt: Was? Ihr Vater versteht nicht.

VII: Irgendwo wird ein Benzinregenbogen aus dem Wasser gefischt. Eine lange Leine zieht das Gold als Schlieren durchs Wasser. Wo liegt des Regenbogens Ende? Die Fischerin schaut auf das Gold, das ihren Lebensinhalt ertränkt. Ihr Lebensunterhalt ersäuft unter Wasser, die Kiemen geschwemmt vom Erdinneren, das aus langen, metallenen Stangen mit Gummiaufsätzen in eine dafür gemachte Kammer in blechernen Gerüsten läuft, ausgestattet mit Sitzen und Heizung. Die Zahl geht nach oben, langsam und langsam steigt der Preis. Soweit ihre Augen reichen, am Horizont.

VIII: Hans tankt langsam. Er ist gemächlich im Halten des Metalls. Er mag es, die Zahlen gleiten zu sehen. Hans bleibt stehen in seiner Aufgabe, er steht 300 Meter neben dem Meer, das hochgischt gegen die Planken, und 200 Meter vor dem Labor. Ein Fisch mit menschlichen Füßen kommt auf ihn zu. Zuerst sieht er ihn nicht, da er nur hüfthoch ist, doch der Fisch wirft ihm mit seiner Hand eine Schuppe ins Gesicht. Seine Wange blutet, das Benzin tropft auf den Boden. Vor Schreck hat Hans seinen Arm bewegt.

IX: Das Mädchen fischt ein Meer aus dem Hund. Im Hund schwammen Fische, die nun zwischen ihren Händen glitschen. Ihre Hände sind ein Netz, durch das das Wasser gleitet. Sie kann das Meer nicht halten. Es fließt aus ihren fest zusammengepressten Fingerschalen und platscht auf den Boden der Küche. Das Wasser steht bis zu ihren Knien. Die Straße, das Dorf, das Land wird überflutet und sie kann es nicht aufhalten. Der Hund hält den Wasserwällen Stand, schaut zu ihr auf und wedelt mit dem Schwanz. Er ist schwarz wie Öl.

X: Ein Sturm zieht über der kochenden See auf. Langsam wird das Öl mit den siedenden Tropfen in den Himmel gezogen. Die Wolken schwimmen nun, und sie sind nass: Gelbe, rosane und blaue Lichtpartikel verziehen sich, wallen sich auf und stieben auseinander. Die Tropfen suchen ihren Ursprung. Das rautenversengte Fell des Hundes zittert unter der Hand des Mädchens, als sie ihn streichelt. Die Fische hat sie losgelassen. Sie zappeln und zucken nun unter der tropfenden Armatur des Waschbeckens. Die Frau hat die Flut nicht gewundert, die an ihre Hüfte geprescht ist. Salz auf der Zunge watet sie zu Rautenhund und Rautenmädchen und setzt Wasser auf.

XI: Hans ist nun eine Erweiterung. So nützlich war er schon seit langem nicht mehr. Unter dem verkabelten Arm des Fisches lugt er heraus und lenkt das Auto Richtung See. Sie bleiben nach ein paar Sekunden Fahrt an den Planken stehen. Steig aus, sagt der Fisch zu Hans. Seine menschlichen Lippen sind mit Drähten an seine ovale Fischmundform genäht. Die Lungen hängen mit Rohren verbunden an seinem Schuppenfell herunter. Das Panzertape drückt auf das sanfte, löchrige Rosa des Fleisches. Hans schaut hinaus über die preschenden Wellen.
Alles sieht friedlich aus, doch unter Wasser rennen die brennenden Bäume über Sand. Die Algen verlieben sich und hängen sich an Stämme, die sie heftigst abzuschütteln versuchen.

XII: Die Frau gießt Kaffee ein. Ihr Rautenhund sitzt neben ihr. Sie gießt dem Mädchen ein, und es trinkt. Es muss nichts sagen. Hier geht es nicht ums Reden. Hier geht es um Schnüre, die unter der Haut eingewachsen sind. Das Meer aus dem Hund ist im matschigen Gras des Gartens versickert. Dieser Ort saugt, die Stadt und der Teer wollen es ihm gleichtun. Das Meer draußen an den Rändern der Kontinente hört auf zu sieden, es hat das Öl ja schon ausgesiedet. Es ist Regen in ganz Europa angesagt. Alle hatten auf der Beerdigung Regenschirme dabei. Schwarze, aufklappbare Kreise, sagt das Mädchen, ordentlich aufgereiht im Flur, und schluckt.

XIII: Der Fisch klärt Hans über die Evolution auf, die soeben wieder stattgefunden hat. Der Erhalt der schon stark dezimierten Lebensqualität der Meereslebewesen auf Erden wird menschliche Opfer in Kauf nehmen müssen. So wie die hohe Lebensqualität der menschlichen Lebewesen einige Thunfischopfer in Kauf nehmen musste, die Überfischung, Vernetzung der Meere, die Ölfilme, die wie billige Sonnencreme auf der Oberfläche schwimmen, das allgemeine Absterben. Was ist ein totes Meer? Eines, in dem nichts mehr lebt. Wenige Jahre von dieser Realität entfernt stehen beide vor der offenen Wasserfläche. Der Fisch sagt: Es ist schon passiert. Ein gestorbenes Meer, Dead Sea. Es ist wie als schwebe Schleim durch das Wasser, nur kilometerweit, ohne Fische. Nicht eine Art, sondern alle ausgelöscht. Der Fisch zieht Hans zurück ins Auto und vors Lenkrad. Es gibt noch einen Ort, an den wir fahren müssen, sagt er.

XIV: Das Mädchen las heute: Hände sind das obere Greiforgan der Extremitäten des Primaten. Greifhände, die über ihren Rücken schludern. Die zuerst die festen, hochgezogenen Schultern klopfen, um dann hinunterzugleiten und vor dem Grab unter der Wirbelsäule zu landen. Handwurzel liegt auf, Mittelhand flach angepresst, die Finger greifen die Windungen, während die weißen Blumen auf den Sarg fallen. Die hant ist eine Greiferin, die durch das Netz hindurch die Fische greift, hier: das Fleisch. Hier: zappelt sie, sucht Entschuldigungen, um einen Schritt nach vorne zu gehen. Zieht das schwarze Jackett trotz der Kälte aus und stellt sich neben die Mutter. Freie Nervenenden, 140 Fühlkörperchen pro cm2, die auf Druck-, Bewegungs- und Vibrationsreize reagieren, liegen in der Luft und spüren die Feuchtigkeit. Es ist ein Netz in ihren Worten, als sie spricht. Sie schämt sich, ihn auszustellen. Die Frau lässt ihr den Raum zum Tapsen.

XV: Die Hand des Fisches zuckt. Sie tippelt schnell auf die unter den Schuppen verborgenen Gräten. Ergriffen sein ist kein Begriff für Fische. Greifen existiert nur in einer Welt voller Hände. Finger auf Cyprinidenschuppen: Die Jahresringe unter der Fingerbeere zählt er sich und die verflossenen Jahre. Gegossen in aus Unterhaut gewachsene Knochenplatten, die an der Luft austrocknen. Wässer mich, sagt er zu Hans, der seine Plastikwasserflasche über den auf dem Beifahrersitz sitzenden Fisch ausschüttet. Kaffee perlt über die Hand des Mädchens. Sie zittert, als sie den Hund streichelt. Die Frau will das Netz aus ihr fischen. Ein Schuppenmuster, die Rauten auf ihrer Zunge, die Brandspuren im Fell. Alles in den Brand werfen, der in den Meeren liegt. Alles Asche werden lassen und sinken, unter tiefes und friedliches Gewicht. Die Wolken draußen ballen sich auf.

XIV: Alles muss ein Ende haben. Das Meer ist ausgeplatscht, das Netz gebrochen und im Grind des Kaffeesatzes liegt nur Pulver: keine Antwort darauf, wie es weitergehen soll. Die Frau packt Hund und Rauten ein, fein säuberlich legt sie das Netz des Mädchens im Kofferraum ab. Ein Netz ohne Lücken ist ein Körper. Doch wessen Körper trägt das Mädchen, worüber spricht sie nicht? In ihr, der Frau, ist keine Antwort. Sie hebt die Hand zum Himmel und sieht den Film, der die Wolken wie mehrfarbiges Quecksilber glänzen lässt. Eine Regenbogensuppe: das Gold in jedem kleinen Tropfen Ende enthalten. Die Frau weiß, wann es Zeit ist zu gehen. Das Mädchen sieht ihr mit Klumpen im Hals nach. Die Hand ihres Vaters fällt von hinten auf ihre Schulter. Der Klumpen purzelt heraus und sie erschrickt sich, als sie ihn vor sich liegen sieht.

XIII: Das schützende Netz schlingert im Laderaum des Wagens der Frau. Ich halte nichts mehr, sagt der Körper des Mädchens und ihr Hals wird frei. Der Schutz der Zurückhaltung geht, als sie „Nein“, sagt. „Ich will jetzt nicht. Jetzt und eigentlich nie nicht. Ich mag das nicht.“ Das Mädchen muss sich selbst gefangen haben, als es mit dem Netz umhergeworfen hat. Auf das Greifen zu zielen schien ihr gefährlicher als auf sich selbst zu zielen. Nun zielt sie nicht mehr. Auf der Autobahn biegt Hans Richtung Halbersdorf ab und der Wagen fliegt eine Reihe Tannen entlang. Das Öl klingt nach den Jahrtausenden Erde, die es gepresst wurde, und es tönt über ihnen. Es liegen noch Fische aus dem Hundemeer im grünen Waldmoos am Stadtrand. Mit einem Quietschen kommt der Wagen vor einem Holztor zum Halten.
XII: Hans denkt zurück und bleibt sitzen. Er hat auf der Fahrt etwas bemerkt: ein Auto. Hans fallen selten Dinge auf, doch dieses Auto schlingerte. Aus dem Kofferraum ragten kaum sichtbare Fäden heraus, die den Waldboden mit sich zogen, tief in die nasse Erde griffen und rissen. In diesem Moment, kurz vorm Passieren von Hans’ Wagen, sprang das Auto nach vorne und ein Hund jaulte laut auf. Hans verliebte sich, wie sich alle Hanse verlieben. Die Hände der Rautenfrau lagen ruhig auf dem Steuer, ihre Augen schattig vom Nadelgewächs. Und während Hans in den Nadeln hängenbleibt, die nach Wald und Meer zugleich riechen, öffnet der Fisch die Gartentür. In den Gartenbeeten liegen Verwandte. Er kann nicht anders, als den Gartenschlauch ein letztes Mal aufdrehen, um ihr Zappeln zu beruhigen. Als Hans aussteigt, drückt ihm der Fisch den Plastikschlauch in die Hand und steigt die Treppen zur Haustüre hoch.

XI: Die Hand des Mannes zögert. Sie liegt weiter auf der Schulter, die verkrampft. Sie bemerkt die Verhärtung und Stille im Körper und zieht sich langsam zurück von den Gliedern. Die Fühlkörperchen lassen den Stoff gehen, Stück für Stück, bis sie durch die Luft hindurch nur noch spüren, wo sie, wo ihre Haut anfangen könnte. „Du weißt, dass ich das nicht so meine, wenn ich dich berühre“, sagt der Vater und fragt eigentlich: Wie meinst du das? Im Kopf des Mädchens liegt ein Unterstellst-du-mir, ausgeworfen wie ein Köder. „Ich mag es nicht, egal wie es gemeint ist.“ Der Fisch dringt in den Flur ein. Die Hand, der Nacken des Mädchens, die Luft dazwischen, die weiße Küchentür, die sich öffnet, und eine menschliche Hand, die sich langsam zum Lichtschalter schiebt. Ein Klicken, Dunkelheit. Das Mädchen atmet heftig ein, es ertönt das Klatschen einer Watschen.

X: Hans hat inzwischen einen Wasserpool um die Fische gebildet, die mit ihren Kiemen keuchen. Ihre Schwänze schwappen in den kleinen Pfützen an die Oberfläche, die Schuppen reiben sich am Rasengras auf. Es donnert. Hans schaut nach oben. Die Wolken sehen mit ihrem Schimmern eher den Fischen im Gras ähnlich als normalen Wolken, denkt Hans. Weit weg, ganz ganz weit weg, hat eine Alge ihren Salzwert verweint und fängt zu brennen an. Sie umarmt einen lieblosen Baumstamm, mit dem sie, liebend und liebend gern, verbrennt. Als hätten die Wolken auf dieses erste Verbrennen gewartet, lachen sie. Es poltert über Hans, der nun genug hat. Er sperrt die Haustür auf und hinter ihm fällt der erste Tropfen, klatscht oszillierend auf den Asphalt.

IX: Innen ist fast alles still. Der Flur ist dunkel. Aus dem Wohnzimmer dringen die Stimmen einer Beerdigungsfeier, schwarze Regenschirme im Gang aufgereiht. Die Küchentür ist offen. Die Fingerkuppen der Fischhand haben ihr bekannte Bartstoppeln berührt, da erinnert sich die Haut. Der muskulöse Arm zittert im Dunkeln, bevor ihn der Fisch sich abreißt, in dem er sich abrupt dreht. Die Finger bleiben in den Händen des fremden Mannes hängen. Der Vater erkennt die amputierte Hand und fängt an zu weinen. „Es tut mir leid“, flüstert er, und das Mädchen will ihn falsch verstehen.

VIII: „Ich wünschte, das hättest du zu mir gesagt“, sagt sie im Dunkeln, bevor sie die Funken sieht. Die aus der Seite des Fisches hängenden leuchtenden Kabel strahlen die Schuppen an. Dann ist sie still, ganz still. Eingefroren. „Es tut mir leid“, sagt der Fisch mit den angenähten Lippen. „Wir bekommen nicht immer das, was wir brauchen, von denen, die es genommen haben.“ Und im Vorbeihuschen drückt er sie noch kurz mit der einen Flosse, die ihm bleibt. „Es wird regnen“, sagt er.

VII: Das Kühl der Schuppen bleibt an ihr haften, während ihr Vater sich auf dem Küchenboden zusammenkrümmt und wimmert. Es donnert. Sie erschrickt und schließt das Fenster in der Küche. Alle Fenster schließen, oder nicht? Sie kann sich nun nicht mehr um ihn kümmern. Die Hand umklammernd liegt er auf den Fliesen, die Stirn an die Finger der abgerissenen Hand gedrückt, als sie die Tür schließt. Sie stolpert die Treppe hoch und hinauf zum Dachboden.

VI: Das Netz ist gerissen. Es hängt nun an einer Wurzel am Waldboden fest. Es wird regnen, es regnet und das Öl fällt ohne ein Sieb. Hans begrüßt alle und wünscht allen ein schönes Beileid wegen der Verstorbenen, während die erste Ladung Öl durch den Sarg tropft. Der Gartenschlauch läuft weiter und die Fische drehen sich nun in ihren kleinen Pools, die rapide größer werden. Flüssiges Gold tränkt das Zinnrot des Daches, Schichten verstorbener und zusammengepresster liquidierter Lebewesen.

V: Alles endet – Dinge, die gerade passieren: Ein Mädchen steht auf einem Dach und schreit die Wolken an. Ein Hund springt aus dem Fenster eines fahrenden Autos und fängt an zu jaulen und zu rennen. Hans lernt im Wohnzimmer mit Fremden zu weinen und zu trauern. Die amputierte Hand hat ein Gedächtnis und streichelt die Wange eines Mannes, der auf den salzigen Küchenfliesen liegt. Das Fell des Hundes ist schwarz, regenbogenfarben, tief.

IV: Die Flüssigkeit, die auf Lunge, in Nase, auf Dach gefallen ist, wird vom Wind weggezogen. Die Wolken folgen den schnellen Pfoten. Tropfen für Tropfen saugen sich im schwarzen Fell der Tiefe an. Der Fisch legt sich in die gefüllte Regentonne im Garten und sieht dem Öl am Himmel beim Rennen zu, die fallenden Tropfen ziehen in eine Richtung.

III: Die Tiefe rennt und jault, das Mädchen lacht. Weder Mensch noch Hand greifen sie, kein Netz. Das fallende Öl folgt der Tiefe, die mit jedem Tropfen im Fell größer wird, schneller und ins Meer kracht.

II. Es braucht kein Gegenüber, das anerkennt. In mich sind keine Schläuche zu legen, ich bin nicht zum Aussaugen gedacht, denkt das Mädchen, den Geruch des Hundes an den Fingerkuppen.

I: Es gibt Dinge, die sind, und die Tiefe des Meeres verschlingt alles und verschluckt sich.