Miriam Emefa Dzah

Wach Bleiben

Ich sitze in der U-Bahn und fühle mich auf einmal wie im Zoo. Nicht weil es nach Exkrementen riecht, das kommt ja vor in der U8. Sondern, weil ich angestarrt werde. Mit offenem Mund verkündet eine Frau in meiner Reichweite voller Faszination halb zu ihrer Begleitung und halb zum Rest der Umstehenden: „Wow toll, die hat aber tolle Haare”. Ihre Worte und ihr Blick kleben an mir, und trotzdem sieht sie mich nicht. Sie scheint zu denken, ich verstehe ihre Sprache nicht, und für einen Moment fühle ich mich auch so. Ich bin mal wieder müde und gelähmt, und ich weiß nicht, ob ein kausaler Zusammenhang besteht. Bin ich müde von der Lähmung oder gelähmt aus Müdigkeit? Durch das U-Bahnfenster sehe ich nur dunkles Nichts, kaum noch Nuancen, Lichter oder Graustufen. Schwarz zieht an mir vorbei. Dieses bekannte, aber undefinierbare Gefühl kurz vor dem Einschlafen. In ihren Augen scheine ich weit weg zu sein, auch wenn uns höchstens eineinhalb Meter und zwei gelbe Metallstäbe trennen. In mir zieht ein schwarzer Panther Kreise; müder Blick, betäubter Wille.

Vor etwa 120 Jahren fand die Erste Deutsche Kolonialausstellung statt. Zwei Millionen Schaulustige zog es über 168 Tage in den Treptower Park, um Menschen zu begaffen, die aus den deutschen Kolonien verschifft wurden. In exotisierten Kulissen sollten diese Menschen ihrem Alltag nachgehen und sich anstarren, berühren und sogar kaufen lassen. Anthropologen schlossen sich den Schaulustigen an und betrieben akribische Vermessungen und Beschreibungen ihrer Ausbeute. Aufzeichnungen halten fest, wie Kwelle Ndumbe sich gegen den weißen Blick wehrte, indem er ihn erwiderte. Er legte sich ein Opernglas zu und starrte zurück.

Ich bin jeden Tag auf Zeitreise. Mal in die Vergangenheit. Mal bin ich umgeben von Schwestern, und wir erträumen Zukünfte. Welten, in denen wir und unsere Vorfahren entspannen können. Gegenwart ist für uns ein ständiges Gegen-Sein, Sich-Wehren, Kämpfen, Verteidigen, Erklären. In Plantation Memories beschreibt Grada Kilomba, wie ein Schwarzer Körper im Alltag jederzeit ohne Vorwarnung in eine koloniale Szene zurückversetzt werden kann, die ein Trauma aufweckt. Die Erinnerung der Vorfahren wird vererbt, ruht in uns und wird zu unserer.

Die Scheibe neben mir fühlt sich an wie der Glaskasten, der ein gestohlenes „exotisches“ Fundstück umgibt, das in deutschen Museen herumliegt und darauf wartet, zurückgeholt zu werden. Wenn es im U-Bahnschacht dunkler wird, fühle ich mich wie gefangen in einer engen Kiste, die mit sorgfältig beschrifteten Skeletten und Schädeln gefüllt auf einem Berliner Dachboden verstaubt und darauf wartet, begraben zu werden. Es ist, als ob sie mit ihren Augen durch meine Haare dringen und meinen Schädel vermessen wolle.

Du Bois‘ doppeltes Bewusstsein bezeichnet die Situation, sich selbst mit den Augen Anderer zu sehen und sich an den Maßstäben des weißen Gegenübers zu messen. Ich schäme mich manchmal dafür, wie viel Zeit meines Lebens ich damit verbracht habe, zu überlegen, wie man mich sieht. Vielleicht kenne ich mich selbst kaum, weil ich mein weißes Gegenüber so gut kennen muss

Ich starre also zurück, aber die Frau schaut durch mich hindurch und sieht höchstens eine Reflektion ihrer selbst in mir oder im Fenster neben mir. Ich schenke ihr ein Lächeln, das ich gerne zurückhätte, sage zögernd „Vielen Dank“ und bereue meine Worte, weil ich weiß, dass ich sie nur sage, um ihr zu beweisen, dass wir eine Sprache sprechen.

Das Gedicht The Mask widmete Maya Angelou einer Frau, deren Lachen sie im Bus beobachtet hatte. Die Frau lachte immer, wenn der Bus sich abrupt bewegte. Sie lachte aber weiter ohne erkennbaren Anlass, auch wenn der Bus bloß die Türen öffnete oder eine Haltestelle verpasste. Es war kein echtes Lachen, sondern eine bloße Mundbewegung mit Lachlauten. Eigentlich könnte sie lachen, bis der Bauch schmerzt, bis sie sich verschluckt, bis sie weinen muss. Aber sie tut es nicht, sie trägt die grinsende Maske, um den Schmerz zu verbergen.

Es gibt genug Gründe, nicht zu lachen. Dass Schwarze Männer in England sechsmal häufiger als weiße Männer aufgrund psychischer Erkrankungen stationär behandelt werden, ist kein Zufall. So etwas lässt sich in Deutschland nicht einmal erfassen. Ohne eine statistische Erfassung unserer Existenz und systematischer Diskriminierungserfahrungen sind Schwarze Menschen auf dem Papier unsichtbar. Wir gelten also als Einzelfälle, wie auch die gezielten Gewalttaten gegen uns. Hanau, der NSU oder der Tod von Oury Jalloh waren keine Einzelfälle.

Ich habe Jahre gebraucht, um zu erfahren, dass Menschen, die aussehen wie ich, seit 400 Jahren in dieser Region leben. Ich wusste jahrelang nicht von der Existenz Schwarzer deutscher Vorbilder wie May Ayim. Die deutsche Sprache fühlte sich an wie geliehen. Ich konnte sie nie so biegen, dass sie meine Erfahrungen wirklich griff, bis ich erwachsen war, Worte fand und Menschen, die sie bereits geformt hatten. Schon bevor ich auf dieser Welt war und je das Gefühl der Fremdheit spüren konnte, hatte May Ayim eigentlich alles gesagt. Vor dreißig Jahren sagte sie, sie habe es nicht mit Fremdenfeindlichkeit zu tun, sie ist schließlich nicht fremd in diesem Land. Es wurde alles schon gesagt, geschrieben, gesungen, geschrien. Wir haben appelliert, gefleht, erklärt, eingefordert. Nichts ist neu.

Nicht einmal die letzten Worte George Floyds waren wirklich seine. Es gab sie schon, sie waren schon die letzten Worte von Eric Garner und bestimmt auch von jemandem, dessen letzte Atemzüge nicht gefilmt wurden. Sie waren schon Protestslogans und T-Shirt Aufdrucke, bevor George Floyd sie sagen musste. Sie sind auch deshalb nicht mehr seine, weil sie nach seinem Tod so oft wiederholt wurden. Sogar auf Schlauchbooten wippende Berliner Technofans wiederholten „I can’t breathe“ auf Bannern, als sie einen Kilometer entfernt von dem Black Lives Matter-Protest für Klubkultur in Corona-Zeiten demonstrierten. Ich bin müde und beinahe gelangweilt vom Leid.

In einer Nacht im Sommer 2013 spürte ich eine Müdigkeit, die ich zuvor nie kannte. Meine Mutter schlief schon lange, ich war trotz Zeitverschiebung aufgeblieben, bis die Geschworenen den Mörder von Trayvon Martin nach sechzehnstündiger Beratung freisprachen. Ich hatte jede Sekunde der Verhandlungen verfolgt und musste am Ende unter Tränen ungläubig feststellen, was also Gerechtigkeit heißen sollte. Ich war damals 15. Trayvon Martin war 17, als er erschossen wurde. Ich lernte ein Gefühl der Wut kennen, der Angst; überlegte, wie ich wohl wirke, wenn ich einen Hoodie trage und abends allein unterwegs bin. Auch ich wurde 17, aber mein Leben ging weiter. Es sind nun acht Jahre vergangen, und ich bin dauerhaft so müde wie in dieser Nacht. Die Verstorbenen, die seitdem als Hashtags weiterleben und sich täglich anhäufen, kann ich unmöglich zählen. Manchmal ignoriere ich sie sogar bewusst, wenn ich durch mein Handy scrolle; will keinen weiteren Post sehen, kein Video mehr schauen, keine Petition mehr unterschreiben. Was würde mein 15-jähriges Ich sagen? Wäre es enttäuscht, dass ich einschlafe? Dass ich lieber an meiner Hausarbeit schreibe, als den toten Körper auf dem Boden zu sehen und mich zu empören?

In Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde „hört der Kolonisierte nicht auf, sich zwischen neun Uhr abends und sechs Uhr früh zu befreien“. Das nächtliche Träumen wird Ausdruck unterbewusster Befreiungsfantasien, des Sich-Wehrens, des Fliehens. Die Kolonialisierte macht das Unmögliche: „Ich träumte, dass ich springe, dass ich schwimme, dass ich renne, dass ich klettere. Ich träume, dass ich vor Lachen berste, dass ich den Fluss überspringe, dass ich von Autorudeln verfolgt werde, die mich niemals einholen.” Ich möchte nicht rennen, nicht rennen müssen. Ich möchte bleiben. Wie May Ayim sagte, „grenzenlos und unverschämt“, so möchte ich bleiben. Wie geht das, obwohl ich müde bin, obwohl ich alt werde? Ich fragte meinen Vater einmal: „Wie hältst du es aus, 60 Jahre in einem Schwarzen Körper durch die Welt zu gehen ohne einen Nervenzusammenbruch?“ Ich betrachtete meine Mutter und fühlte mich beinahe betrogen. Mich überkamen eine kindliche Enttäuschung und Wut. Das Versprechen einer gewissen Unbeschwertheit, wenn man auf die Welt kommt, fühlte sich gebrochen an, weil ich mich an die toten Körper gewöhnen musste. Mein Vater antwortete, man gewöhnt sich daran, man verdrängt, lässt nicht alles an sich heran, schließt die Augen.

Ich bin dankbar, dass ich atmen darf, weil er seit Jahrzehnten verdrängt und die Maske trägt. Maya Angelou beschreibt das Tragen der Maske als Überlebensstrategie. Egal wie gestellt es ist, das Lachen unserer Vorfahren hält uns am Leben.

Mir fallen allmählich die Augen zu, Schwarze Körper ziehen an mir vorbei. Die nächste Haltestelle wird durchgesagt.

Koleka Putuma beschreibt, wie Särge in ihrem Hals hinuntergelassen werden, Grabsteine in ihre Nasenlöcher gesenkt werden, und sie schließlich gefragt wird, ob sie noch gut atme. Putuma ist es leid, dass über Schwarze Frauen* immer geschrieben werde, als ob sie schon tot seien, eine Existenz als Nachruf. Sie schreibt, es scheint, als wisse die Welt nicht, wie Schwarze Frauen* lebendig aussehen, laufend und atmend.

Wenn ich die starken Frauen* sehe, die vor mir kamen, bin ich mal stolz und mal wehmütig. Sie hatten die gleichen Gedanken, die gleichen Ziele, Wünsche, Vorbilder und trotzdem stehen wir immer noch, immer wieder mit Protestschildern in der Hand. Das macht müde. James Baldwin schrieb: „Die Geschichte ist nicht die Vergangenheit. Sie ist die Gegenwart. Wir tragen sie in uns. Wir sind unsere Geschichte.“ Es ist, als spüre ich auch die Müdigkeit der Frauen* vor mir.

Es ist kein Wunder, dass sich der Topos der „starken Schwarzen Frau“ darin zeigt, dass medizinisches Personal die Schmerzen Schwarzer Frauen systematisch unterschätzt und seltener Medikamente verschreibt, oder Schwarze Mädchen im Vergleich zu weißen Gleichaltrigen generell als älter wahrgenommen werden. Es darf nicht sein, dass Stärke unser wichtigstes Merkmal sein muss.

Verletzlichkeit soll meine Utopie sein. Ich will jede Art von Schwarz sein können, aufrichtig lachen und weinen, wenn ich möchte. In einer solchen Welt wäre Raum für alle Facetten unseres Seins. Ich müsste nicht entscheiden, ob ich Schwarz bin, oder Frau, oder queer, und welchem Kampf ich mich widme.

„Ist es nicht komisch?“ fragt Koleka Putuma im Gedicht Black Joy, „immer, wenn sie nach unserer Schwarzen Kindheit fragen, sind sie ausschließlich an unseren Leiden interessiert als seien die Freudenanteile bloß purer Zufall gewesen“. Unsere Kämpfe können nicht ohne unsere Freude sein, genauso wenig wie unsere Freude ohne unsere Kämpfe besteht.

Mein Vater sagte am Telefon: „Hast du gesehen? Ganz viele Statuen kippen um.“ Ich musste lachen und daran denken, wie er von einem durch ein Erdbeben erschüttertes Haus einmal sagte: „Das Haus hat sich geschüttelt.“ Jetzt schütteln wir das Haus. Die Statuen von Kolonialisten fallen nicht einfach, wir werfen sie um und all das, wofür sie stehen.

Manchmal vergesse ich nicht nur, dass vor mir schon Menschen kamen, die den gleichen Schmerz fühlten, sondern auch, dass nach mir und uns noch Menschen kommen. Das ist ein Grund, Sachen umzuschmeißen. Ein Grund, zu schreien und Plakate hochzuhalten auf denen steht: „Wir sind die letzte Generation, die sich das gefallen lässt.“ Vielleicht auch ein Grund, zu lachen.

Es ist ein Grund, meinen Platz und den Platz meiner Vorgänger*innen und Nachfolgenden einzufordern. Ich bestehe darauf, dass mein Gegenüber googelt, wer May Ayim war. Ich werde die Maske absetzen, wenn ich will, verletzlich sein, wenn ich will. Ich werde tief und ernstgemeint lachen, wenn ich das möchte, und jedes falsche Lachen zurückfordern.

Ich steige aus, gehe die Treppe hinauf, und das blaue Schild wird immer größer, auf dem groß Mohrenstraße steht. Ich könnte lachen, wenn ich mich vom Schild entferne und in Richtung Justizministerium laufe. Adresse: Mohrenstraße 37. Eine dramatische Aufschrift ziert das Gebäude. Der Schriftzug ist so groß, dass das Straßenschild im Blick kaum auffällt. Es sind die Worte Albert Einsteins: „Wenn es sich um Wahrheit und Gerechtigkeit handelt, gibt es nicht die Unterscheidung zwischen kleinen und großen Problemen.“ Ich könnte lachen, bis ich weinen muss. Aber ich denke auch an ein Bild, auf dem May Ayim einige Jahre vor meiner Geburt vor dem gleichen U-Bahnschild steht, sich lachend einen weißen Schokokuss in den Mund steckt und in die Kamera grinst. In mir treffen Vergangenheit und Zukunft aufeinander, Wut und Mut. Ich blicke hoch auf das Straßenschild, freue mich über die Existenz des ö im deutschen Alphabet und vertraue darauf, dass wir auch dieses Monument bald umstoßen.

Quellen

Ayim, May, 1997, Grenzenlos und Unverschämt, Berlin: Orlanda

Verlag Kilomba, Grada, 2008, Plantation Memories, Münster: Unrast Verlag

Angelou, Maya, 1987, The Mask

Baldwin, James, 1979, Remember This House, in Baldwin, James, et al., 2017, I am not your Negro

Putuma, Koleka, 2020, Kollektive Amnesie, Heidelberg: Das Wunderhorn

Fanon, Frantz, 1961, Die Verdammten dieser Erde, Berlin: Suhrkamp

Hoffman, Kelly M.; Trawalter, Sophie; Axt, Jordan R., & Norman, Oliver M., 2016, Racial bias in pain assessment and treatment recommendations, and false beliefs about biological differences between blacks and whites, in: PNAS, 113 (16), www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.1516047113

Epstein, Rebecca; Blake, Kamilia J. & González, Thalia, 2017, Girlhood Interrupted: The Erasure of Black Girls’ Childhood, Centre on Poverty and Inequality, Georgetown Law, www.law.georgetown.edu/poverty-inequality-center/wp-content/uploads/sites/14/2017/08/girlhood-interrupted.pdf