Maren Wurster

Papa stirbt, Mama auch

Eine Klingel ist zu hören, entfernt hinter einer Tür.

Eine Gegensprechanlage rauscht, eine Frauenstimme durch die Anlage: „Ja?“

Die Erzählerin: „Hier ist Maren Wurster. Ich möchte zu meinem Vater.“

Ein Summer, eine automatische Tür öffnet und schließt sich wieder.

Maren Wurster

Papa stirbt, Mama auch

Du hast dieses kleine Loch da. Zwischen Bauch und Brust. Da, wo diese Falte ist,

der Bauch abfällt und der Brustkorb beginnt. Hast ja nichts an, nur dieses komische

Stück Stoff, das im Nacken gebunden wird und am Rücken frei bleibt. Es ist verrutscht. Die Bettdecke auch. Deshalb sehe ich alles. Decke dich wieder zu.

„Ein Leberfleck.“ Die Krankenschwester deutet auf das Loch. Sie auf der anderen

Seite deines Bettes, ich auf der einen. Du hättest dir wahrscheinlich einen Leberfleck

abgerissen. Über dich hinweg sagt sie das. „Hat sich wahrscheinlich einen Leberfleck

abgerissen.“

In deinem Wahn (das sagt sie nicht), der hier Delir heißt.

Dein Zustand: Delirant.

De-li-rant.

Steht in diesem akribisch geführten Protokoll, eine ausklappbare Tabelle mit Abkürzungen und Zahlen und Haken und Strichen.

Vas. Zug.: pVK, ZVK (Hickman)

ZVD 1 mmHg, 1,36 cmH2O,

38,5 °C

PWTT: SpO2-Sonde

Medik.: Fentanyl 12,5 µg/h, ASS, Pantoprozol, Mirtazapin, Prednisolon, Macrogol

SOFA-Score: Horovitz-Quotient < 100mmHg, Thromb. = 90.000/µl, Bilirubin = 25 µmo/l, GCS = 4

Ausf.: Urin 950 ml, Erbrechen 0 ml

Dein Puls eine Gebirgskette. Jede Stunde zwei Punkte, die jeweils miteinander verbunden werden. Steigt zwischen sieben und zehn Uhr massiv an, jemand hat einen

roten Pfeil dazu gemalt, fällt wieder ab. Malen nach Zahlen. Wenn’s nur so nett wäre.

Drainagen: keine

Und jetzt hast du da ein Loch, so groß wie mein kleiner Fingernagel. Und darunter irgendwelche Schichten. Fett, Muskeln, Sehnen. Wenn du dich bewegst, dehnt sich

das Loch oval auseinander. Ich mag nicht so genau hinsehen. Die Schwester sprüht

Desinfektionsmittel drauf und klebt ein Pflaster drüber.

Eine Klingel hinter der Tür.

Gegensprechanlage, Frau: „Ja?“

Erzählerin: „Hier ist noch mal Maren Wurster.“

Frau: „Wer?“

Erzählerin: „Wurster. Ich möchte zu meinem Vater, auch Wurster.“

Ein Summer, eine automatische Tür öffnet und schließt sich wieder.

Ich weiß, dass ich dich fragen muss.

Ich brauche einen klaren Moment von dir.

Bitte, bitte, bitte, Papa.

Du wälzt dich, soweit es dir überhaupt möglich ist. Wenn du Kraft hättest, wäre es ein

Wälzen. So ist es eigentlich nur ein Rumoren im Bett. Reicht, dass der Monitor aufmuckt und ein Parameter unregelmäßig flattert.

Piepen im Staccato, dann langanhaltend.

Der Monitor mit seinen Parametern – auf den alle zuerst gucken, wenn sie zu dir ins

Zimmer kommen. Er sagt ihnen, was los ist. Nicht der Blick auf dich. Nicht die Berührung. Es sind nette Menschen, liebe Menschen, aber sie schauen auf den Monitor,

so wie ich auf mein Handy, sobald es einen Ton von sich gibt.

Endlich kommt die Schwester und drückt einen Schalter.

„Kann man das nicht leiser stellen?“, frage ich.

„Das geht nicht“, sagt die Schwester.

Ich wäre auch de-li-rant, wenn ich andauernd von diesem Piepen geweckt würde.

Ich lege meine Hand auf deine Stirn und du zuckst mit dem Kopf in meine Richtung.

„Hallo Papa.“

Dich kann ich einfach berühren. Mama nicht.

Mama fühlt sich an wie Teig, Hefeteig. Sie riecht streng, weil sie sich weigert, geduscht zu werden. Weil die Zähne in ihrem Mund verfaulen. Weil ich mich weigere,

dass sie ihr gezogen werden.

Das geht nur unter Vollnarkose, und ich fürchte den Schub. Den Schub weiter in den

Verlust hinein, sie noch mehr zu verlieren, Mama, in das, was Demenz heißt und so

viele Gesichter hat.

Aber das ist eine andere Geschichte. Dazu später mehr.

„Papa, hier ist Maren. Papa, hörst du mich?“

Du gibst einen unklaren Laut von dir, Lippen kaum geöffnet. „Mariele“, könnte sein,

ja, mit geschwächter Zunge, doch. Mein Herz schlägt heftig. Ich brauche keinen Monitor dafür, ich spüre es auch so.

Die Augäpfel unter deinen Lidern bewegen sich, du versuchst, die Lider zu heben. Zu

schwer. Viel zu schwer.

„Papa, hör gut zu.“

Du nickst.

„Was brauchst du von mir? Was willst du?“

Dein verkrusteter Mund öffnet sich. Deine Zunge ist knallrot.

„Sterben.“ Sagst du. Leise, das aber ganz klar.

Ich jubele. Innerlich, das aber sehr laut.

„Hier oder woanders?“ Mist, das ist nicht präzise gefragt.

„Ja.“

Du sagst „ja“. Zu was denn jetzt?

„Hier?“

Du bist schon wieder in den Schlaf gesunken. Immerhin.

Immerhin zappeln nicht wieder deine Beine und Arme.

Immerhin willst du nicht wieder aus dem Bett, mit der wenigen Kraft, die du noch

hast.

Immerhin löst sich nicht diese Klammer von deinem Zeigefinger.

Immerhin reißen nicht wieder Kanülen aus deinem Körper.

Immerhin schreit der Monitor nicht wieder nach Aufmerksamkeit.

Immerhin kommt kein Arzt und bindet deine Handgelenke am Bett fest.

Immerhin.

Am Bett sind Vorrichtungen dafür. Handschellen aus Klett, die an den seitlichen

Stangen festgemacht sind und in die deine Handgelenke geschoben wurden. Bewegungsradius ungefähr siebeneinhalb Zentimeter, dann ist Schluss.

So etwas gibt es noch?

Was denken Sie? Was denken Sie denn?

So etwas gibt es noch. Nicht nur in der Psychiatrie, auch auf der Intensivstation.

Waren Sie mal abends auf einer Intensivstation? Wenn es draußen dämmert? Waren

Sie mal da? Haben Sie gehört, wie die Menschen rufen? Haben Sie gehört, wie sie

um Hilfe rufen? Haben Sie gehört, wie sie schreien?

Menschen machen das. Andere Menschen machen das. Mit den einen Menschen.

Auch mit denen, die sterbenskrank sind. Fixieren sie ans Bett. Die, die sterben möchten, aber nicht dürfen.

Weil, ja weil … ich weiß nicht. Weil das System so tickt. Weil die da gesund rauskommen müssen. Also „gesund“ in Anführungsstrichen. Gesund im klinischen Sinne.

Das andere sieht man ja nicht, die Seele, die Wünsche. Zum Glück. Zum Pech. Zum

Pech für dich, Papa.

„Mein Vater hat eine Patientenverfügung“, sage ich.

„Ich habe eine General- und Vorsorgevollmacht“, sage ich.

„Wir möchten keine lebensverlängernden Maßnahmen“, sage ich.

„Sie sind hier auf der Intensivstation“, sagt der Arzt.

„Ich möchte einen Palliativmediziner sprechen“, sage ich.

„Sie meinen den Onkologen“, sagt der Arzt.

Er ist so schön, dieser Arzt. Das sehe ich, auch wenn die Hälfte seines Gesichts von

der Maske verdeckt ist. Dunkle Haut, der Kopf rasiert, große braune Augen, die Augenbrauen etwas wild. Jung.

„Ich möchte, dass alles abgestellt wird“, sage ich.

„Wenn wir das Adrenalin jetzt abstellen, kann sein Kreislauf nicht aufrechterhalten

werden. Möchten Sie das?“, sagt der Arzt.

Scheiße. Verdammte Scheiße. „Null Komma sieben“ zeigt eine digitale Anzeige auf

der riesigen Spritze. Die Spritze ist an der Wand befestigt. Eine Maschine – natürlich

eine Maschine – injiziert den Inhalt gleichmäßig in deine Vene. Null Komma sieben

Adrenalin, was auch immer das heißen soll.

Was ich möchte? Was ich möchte? Dass du in Ruhe einschläfst. In deinem Bett.

Dass du meine Hand noch drückst vorher. Nicht, weil ich das Adrenalin abstelle, auf

null Komma null setze. Verdammte Scheiße. So habe ich mir das nicht vorgestellt.

Zum Glück haben sie die Fixierung gelöst.

Und auch wenn du dachtest, Papa, du wärst in Ungarn.

„Bin ich in Ungarn?“, hast du gefragt.

Und auch wenn du nicht mehr wusstest, „kreist die Erde um den Mond in einem Tag

oder der Mond um die Erde?“. Wer weiß das schon. Ich nicht.

Und auch wenn du diese seltsam trüben Augen hattest, hast du es irgendwie geschafft,

„du schaffst es, Papa!“,

mit deiner zitterigen Hand, die nur noch mit Mühe eine Schnabeltasse an den trockenen Mund führen kann – manchmal. Manchmal auch ans Kinn. Manchmal an die

Nase. Mit dieser Hand hast du es geschafft, die Kanüle mit der Adrenalinzufuhr aus

deiner Vene zu ziehen.

Ich bin so stolz auf dich, Papa!

Aufregung im Zimmer. Und dieses Mal ist es nicht nur der Monitor.

„Das wird nicht wieder angelegt“, sage ich.

Ich bin so stolz auf mich!

Sie machen es, sie machen es nicht.

Und, stirbt er?

Du stirbst nicht, du lebst.

Gegensprechanlage, Frau: „Ja?“

Erzählerin: „Maren Wurster hier.“

Ein Summer, eine automatische Tür öffnet und schließt sich wieder.

„Ich möchte, dass er zurück ins Pflegeheim kommt“, sage ich.

Es dauert Tage, dann noch einen, weil die Antibiose muss ja noch abgeschlossen

werden. Auch mit einem intravenösen Zugang im Übrigen, der zwischen all den Blutergüssen in deinem Handgelenk steckt. Deine armen Handgelenke.

„Ihr Vater könnte sonst eine Resistenz entwickeln.“ Das sagt der Chefarzt.

Und das muss natürlich bedacht werden. Natürlich. Eine Resistenz. Zu vermeiden.

Für die nächste Schleife im Krankenhaus? Oder für was? Wer weiß, was noch passiert. Nachher stirbt er noch. Absolut zu vermeiden.

Ich unterschreibe Papiere. „Vorzeitige Entlassung gegen den ärztlichen Rat“ steht

da. Zu deren Absicherung. Um deren Arsch zu retten. Um deren System nicht in

Frage zu stellen. Das mache ich. Ich unterschreibe. Mir egal.

Und, stirbt er jetzt?

Noch nicht. Obwohl ich es mir wünsche. Nicht nur für ihn. Insgeheim auch für mich.

Aber ich kann diese Geschichte nur erzählen, indem ich von euch beiden erzähle.

Von dir und Mama.

Deshalb muss ich noch mal zurück:

Eine Klingel ist zu hören, entfernt hinter einer Tür.

Eine Gegensprechanlage rauscht, eine Frauenstimme durch die Anlage: „Ja?“

Die Erzählerin: „Hier ist Maren Wurster. Ich möchte zu meinem Vater.“

Ein Summer, eine automatische Tür öffnet und schließt sich wieder.

Der erste Tag, als ich dich auf der Intensivstation besucht habe. Also nach der

Nacht, als ich wusste, du bist ins Krankenhaus gekommen, als ein Arzt anrief – „ihr

Mann ist soweit stabil“ – „Sie meinen meinen Vater?“ –, also als ich dich sah, den

Verlust eines Leberflecks sah und nebenbei den der Würde, als ich dich berührte,

sagtest du: „Und Mama?“

Du hast nach Mama gefragt. So, wie ich sie anspreche: Mama. Nicht Ingrid. Oder

„Besele“, wie du sie liebevoll nennst. „Besele“ sagte ein Amerikaner, den du bei der

Marine kennengelernt hast und der dich nach deinem Lieblingsessen gefragt und

dann versucht hat, es zu wiederholen: Spätzle. Mit Linsen und Saitenwürstchen.

Und genau in diesem Moment, als du auf der Intensivstation nach Mama fragst, interessiert sich jemand bei eBay-Kleinanzeigen für euren Schrank, den mit der Glasvitrine, den ich schon lange nicht mehr brauche, nie gebraucht habe. Der nur unnötig

rumsteht. Zuhause räume ich ihn aus und finde das Familienstammbuch zwischen

zwei Ordnern, in hellem Leder gebunden und mit dem Stuttgarter Wappen golden

eingestanzt.

Ja, ich verkaufe wirklich noch einen Schrank. In dieser Zeit. Ich funktioniere. Ich gehe

sogar arbeiten. Hole mein Kind vom Kindergarten ab, bringe es zur Musikschule oder

schaukle es auf dem Spielplatz.

Helles Leder, DIN A 5.

Eure Namen und Daten.

Dein Beruf: „Programmierer“.

Mamas Beruf: „Versicherungskaufmann“.

Die Heiratsurkunde. Nur Standesamt, kein Eintrag zur kirchlichen Trauung. Weil

Mama schon mal verheiratet war, ist alles verzeichnet, mit Gebührenmarken versehen und abgeheftet.

19. Juni 1970. Habt ihr geheiratet.

Mist.

Ihr seid dieses Jahr fünfzig Jahre verheiratet, und niemand hat es bemerkt.

Mama nicht, weil sie diese Zusammenhänge schon lange nicht mehr parat hat, keine

Ahnung mehr von Jahreszahlen, Jahreszeiten, Tagen hat.

Du nicht. Warum nicht?

Ich nicht – übrigens der nächste Eintrag: „erstes gemeinsames Kind“. Also das erste

(und einzige) gemeinsame Kind auch nicht. Weil es sich nie dafür interessiert hat.

Der 19. Juni 2020 – ich schaue in meinem Kalender nach – war ein Freitag. Vielleicht

habe ich euch besucht an dem Tag, vielleicht saßen wir im Garten des Pflegeheims

zusammen.

Ich hätte euch Blumen mitbringen können.

Ich hätte euch erinnern können.

Ich hätte euch fragen können, wie der Tag war.

Ich hätte euch fragen können, wie es später in der Disko war, mit Birgit und Heinz,

mit Gerd und Irmgard. In der Disko, in die euer erstes gemeinsames Kind später als

Jugendliche auch gegangen ist. Roxy. Oder Musicland? Ich würde die Straße wiederfinden, auch den Eingang, erinnere mich an die Treppen in den Keller. Habt ihr

getanzt? War es schon hell, als ihr die Treppen wieder heraufgekommen seid?

Ihr seid fünfzig Jahre verheiratet.

Zwei Drittel eures Lebens.

Lebt ihr zusammen.

Die letzten beiden Jahre in einem Pflegeheim.

Und du, Papa, wirst eines Nachts ins Krankenhaus gebracht.

Du wärst jetzt tot, wenn sie dich nicht in Krankenhaus gebracht hätten. Wenn sie dich

nicht penetriert, maschinisiert hätten.

So …

… hast du die Kurve gekriegt …

… bin ich dir so nahe gekommen …

… hast du den Wunsch äußern können, den dein Körper schon kannte, den, zu sterben. Klar und deutlich. Hast du es wiederholt.

„Ich will sterben.“

Und mich gefragt, was du tun sollst.

„Soll ich aufhören zu essen und zu trinken?“

Hast dabei meine Hand gedrückt.

Ob ich dir helfen kann. „Kannst du mir helfen?“

Hast mich flehend angesehen. Deine Erwartung in mich gelegt.

Und, stirbt er bald?

Ich habe telefoniert und rumgefragt. Man kann viel Aspirin nehmen und sich dann die

Pulsadern aufschneiden. Wer denn? Du mit deinen zittrigen Händen ja ganz bestimmt nicht, und ich kann ja nicht mal das Adrenalin auf null stellen. Man kann dir einen Zugang mit Morphium legen, so viel drin, dass du dich selbst ins Jenseits injizieren kannst. Natürlich – schon wieder – mit einer Kanüle. In die Schweiz fahren.

Teuer, wenn es schnell gehen soll. Insulin im Übermaß geben.

Alles aktive Sterbehilfe und nicht erlaubt.

Aber eine Notfallverfügung ausfüllen. Nie wieder Krankenhaus! Aber aufhören mit

der Tumortherapie, mit dem Insulin und den Blutdruckmitteln. Mit den Thrombosespritzen. Das kann man. Das ist erlaubt. Den Körper seinen Weg gehen lassen, den

Krebs seine Arbeit machen lassen, nur noch BTM, wie das heißt, Betäubungsmittel,

und diese dann am Schluss erhöhen, wenn niemand kritisch fragt. Auch, damit du

nicht wieder Atemnot bekommst.

Weil – worum du mich vor allem gebeten hast, war, dafür zu sorgen, dass du nicht

erstickst. „Lass mich nicht ersticken. Nicht noch mal will ich das erleben.“

Die erste Nacht auf der Intensivstation. Schleppend und mit Pausen, weil dir das Reden schwerfällt, erzählst du mir später von dieser ersten Nacht. Erzählst mir davon,

nachdem du gesagt hast: „Ich will sterben.“

Erzählst mir davon, wie du das Gefühl hast zu ersticken.

Erzählst mir, dass du erstickst.

Du erstickst. Du bekommst keine Luft mehr. Du erstickst.

Dass jemand ins Zimmer sieht und nicht hereinkommt. Dabei erstickst du doch gerade.

Dass Menschen auf dem Flur sich über dich unterhalten. Dabei erstickst du doch gerade.

Dass gegenüber vom Flur hinter einer Glaswand der Arzt sitzt und telefoniert (mit

mir?). Du siehst ihn. Und erstickst doch gerade.

Dass irgendwann doch irgendjemand kommt, ein Pfleger, der dir ein Gerät auf den

Mund drückt, was deine Todesangst weiter verstärkt. Der dich töten wird. Dass du

mit aller Kraft, mit letzter Kraft gegen ihn und das Gerät arbeitest. Ein Kampf. Zwischen Ungleichen.

Grob ist er, der Pfleger. So beschreibst du ihn.

Dass dann doch der Arzt am Bett steht und dich ansieht, sich mit dem Pfleger unterhält. Dabei erstickst du doch gerade. Du beschreibst ihn mir genau, den schönen

Arzt mit den dunklen Zügen.

„Bitte“, sagst du zu mir, „ich möchte nicht ersticken.“ Und: „Das war der absolute Horror.“

„Ich verspreche es dir“, antworte ich.

Auf dem Fahrrad – später – habe ich eine Panikattacke, auch Luftnot.

Ich weiß gar nicht, ob ich das kann. Dir das versprechen. Dass du nicht ersticken

wirst. Wie denn? Wie kann ich das Versprechen halten?

Jetzt liegt eine Spritze in einem Koffer. In einem Schrank der Pflegekräfte. Unweit

deines Zimmers.

Jetzt hast du ein Band um das Handgelenk (dein geschundenes Handgelenk) mit einem großen roten Knopf. Wenn das Band verrutscht, sieht man deine Tätowierung:

einen Anker. Den erkennt man aber nur, wenn man es weiß. Von deiner Zeit bei der

Marine, gestochen im Hafen von Halifax. Wir sehen uns Fotos dazu an, du monatelang auf hoher See, von Wilhelmshaven nach Madeira, über den Atlantik nach Puerto

Rico, zu den Jungferninseln, nach Fort Lauderdale, Norfolk, New York, du in weißem

Matrosenanzug, schlank und mit dieser prägnanten Nase, verkatert auf einer Pritsche unter Deck. Viele Aufnahmen hast du einfach nur vom Meer gemacht. Wellig

oder ruhig, im Abendlicht, mit Land am Horizont und ohne. Immer ohne deinen besten Freund Erich, der bei seiner letzten Autofahrt, kurz bevor ihr gemeinsam eingezogen werden solltet, also bei der Autofahrt, als er noch Shampoo und Pomade für

eure Zeit bei der Marine besorgen wollte, von der Straße abkam und an einem Baum

tödlich verunglückte. Immer ohne ihn. Du hast Tränen in den Augen, wenn du von

ihm sprichst, immer noch.

Also wenn du über dem verwaschenen Anker den roten Knopf drückst, den am Band

deines Handgelenks, kommt ein Pfleger oder eine Pflegerin. Mike oder Kathrin oder

Michaela oder „Grübchen“.

Weil wenn du wirklich erstickst – und die Metastasen in der Lunge wachsen ja nun

kräftig –, darf nicht viel Zeit vergehen. Wenn du wirklich erstickst, dann kriegst du

diese Spritze. Und sie wird dich schlafen lassen. Sie wird dich schlafen lassen. Und

dabei deine Atmung lähmen. Du wirst wohl nicht mehr aufwachen. Aber du wirst

nicht ersticken.

Das hat der Arzt mir versprochen.

„Bitte“, sage ich zu ihm, „ich möchte nicht, dass er erstickt.“

„Ich verspreche es Ihnen“, antwortet er.

Ich muss ihm glauben.

Und, stirbt er jetzt?

Jedes Mal, wenn ich von dir gehe, verabschiede ich mich.

„Bis zum nächsten Mal“, sage ich.

Oder: „Schlaf gut.“

Ich winke und gebe mich gelassen.

Und wir beide wissen, dass es das letzte Mal sein könnte.

Immer liegst du, mit dem großen Kissen und dann noch dem kleinen unterm Kopf,

leicht erhöht, zugedeckt, das Fenster offen. Das Sauerstoffgerät dröhnt leise und gluckert.

Deine Augen sind lieb auf mich gerichtet. Du bist glücklich, dass es mich gibt. Du bist

dankbar, dass es mich gibt.

Und ich denke: Ich bin so, weil du so bist. So großzügig, liebevoll. Ich kann das machen, weil ich dein Kind bin. Auch das von Mama. Weil ihr das in mich gelegt habt.

So denke ich. Manchmal.

Manchmal denke ich: Na super, jetzt schon wieder. Großartig!

Schon als Kind habe ich den ganzen Kram von euch getragen. Deine Sucht ausgehalten. Jeden verdammten Abend bist du in die Sucht geglitten und darin verschwunden. Jeden einzelnen Abend in meinem gesamten Leben, Papa. Ich habe deine

Sucht ausgehalten und sie versteckt, heimlich an entfernten Glascontainern die

Weinflaschen entsorgt. Ich habe die Schwäche von Mama ertragen. Ihre Abweisung,

ihre Eifersucht, ihre Kälte. War ein so ernstes, trauriges Kind. Depressionen als

Teenager dann. Schultern beladen mit eurem unaufgeräumten Kram. Deiner Untreue, Papa, von der ich wusste, die du mir gestanden hast, nicht Mama. Warum

mir? Ich bin ein Kind. Was soll ich damit machen? Dich verraten? Mama verraten?

Ich kann nur verlieren dabei. All den Kram.

Und jetzt – zum Schluss, auf euren letzten Metern – wieder

Dabei könnte ich euch wirklich gut gebrauchen, mit dem Kind und allem.

Ihr lasst euch hängen, und ich muss alles erledigen.

Ich muss euch nach Berlin holen, eine nach dem anderen, mit dem Flugzeug.

Eure Wohnung auflösen. (Alles wegwerfen, ohne die Dinge noch mal in die Hand zu

nehmen. Ich habe keinen emotionalen Platz dafür.)

Eure Wohnung vermieten.

Eure Steuererklärung machen.

Euren Bausparvertrag auflösen. Das UnionInvestment-Paket auch. (Pflege ist teuer,

obwohl bei denen, die sie machen, kaum was ankommt.)

Eure Kontoauszüge abheften.

Euch besuchen, nach euren Erinnerungen fragen.

Euch euren Enkel bringen, der nicht weiß, was er tun soll in den kleinen Zimmern.

Den ganzen Kram.

Dich ausm Krankenhaus holen, Papa.

Deinen Tod organisieren. Mit der Spritze im Schrank.

Weil du einfach nicht so sterben kannst, wie man sich das halt so vorstellt.

Ich muss Mamas Zähne verrotten lassen und mich deswegen mit dem Zahnarzt am

Telefon streiten.

Ich muss das schlechte Gewissen aushalten, dass ich nicht jeden Tag neben Mama

sitze, damit sie sich beruhigt, weil ich da bin, weil sie mich noch erkennt, wenn ich in

ihrem Nebel auftauche. Und sich freut. Dass ich aber auf die Uhr schaue, wenn ich

neben ihr sitze.

Mama.

Deine erste Frage, nachdem du fast erstickt wärst, galt ihr. Also ist deine Geschichte

auch Mamas Geschichte. Dein Sterben ist auch Mamas Sterben. Oder anders: Mit

ihrem Sterben hat alles angefangen. Sie hat zuerst angefangen. Mit diesem Sterben.

Das ging so:

Zuerst hat sie hat nach allem drei Mal gefragt. Vier Mal. Zehn Mal.

„Frage ich wirklich nach Dingen öfters, Maren?“

„Ja.“

„Frage ich wirklich nach Dingen öfters, Maren?“

„Ja“.

„Frage ich …“ Na ja, und so weiter.

Dann gab es nicht mehr Spaghetti Bolognese, wenn ich euch besucht habe. Nicht

mehr wie immer. Nicht mehr wie immer Spaghetti Bolognese. Mit Hackfleisch, Zwiebeln, Knoblauch und Karotten. (Die Karotten machen das Essen ein wenig süß.)

Nicht mehr wie immer, immer, immer. Wenn ich euch besuchen gekommen bin.

Egal, ob nach einer langen Zugfahrt am Abend oder ob der Flieger schon vormittags

gelandet war.

Dann gab es irgendwann gar nichts mehr zu essen.

Dann hat Mama mich nicht mehr angerufen.

Dann trug sie das gelbe T-Shirt mit der weißen Weste. Tagelang. Nur noch.

Sammelte Büroklammern im Bad. Salamischeiben auf dem Nachttisch.

Und du, Papa? Was ist mit dir passiert?

Hast das nicht ansehen können. Hast mehr getrunken. Hast die alte Depression ausgepackt. Die verqualmte, versiffte alte Depression, die du von deinem Vater geerbt

hast. Bist nachts betrunken auf den Boden geknallt. Auf die Terrakottafliesen. Hast

nach zwei Wochen mit einer gebrochenen Schulter endlich deinen Bruder angerufen.

Ob er dich zum Arzt bringt. „Kannst du mich zum Arzt bringen?“

Hast mich angerufen. Du, der mich nie anruft. War Mamas Job. Und als sie ihn nicht

mehr gemacht hat, diesen Job, hast du ihn nicht übernommen.

Was hast du gesagt? Als du das Telefon in die Hand genommen und meine Nummer

gewählt hast?

„Ich muss ins Krankenhaus, Mariele. Ich muss operiert werden.“

„Und Mama?“ Da habe ich gefragt. Nach ihr. Wie du, mein erster Gedanke.

Du hast geschwiegen.

„Soll ich kommen?“

„Ja.“

Ja, komm und schau dir das ganze erbärmliche Ausmaß an.

Komm, Töchterchen, und schau es dir genau an. Komm, verwöhntes Einzelkind.

Komm und schau. Einsames Einzelkind.

Eine angebrochene Aprikosenkonserve steht seit … Monaten? im Schrank.

Dafür ist der Kühlschrank leer, abgesehen von den Aluminiumschalen von „Essen

auf Rädern“. Die Toilette schmutzig. Die Matratzen – ich muss nicht alles erzählen,

oder?

Ich muss aber registrieren, was es bedeutet, wenn Mama alles macht, immer alles

gemacht hat, und dann damit aufhört. Später registriere ich, als ich eure Finanzen

überblicke, was es bedeutet, wenn Mama, weil das Kind da ist (ich), mit der Arbeit

aufhört, nur noch in Teilzeit arbeitet, später. Dass sie altersarm ist, wäre, ohne dich,

Papa.

Was ist dann passiert? Na, was wohl?

Ich habe Mama auf meine Schulter gepackt. Rechts. Hau-ruck.

Du, Papa, kommst dann links drauf. Wegen des Herzens, weil du näher an mir dran

bist, weil du leichter bist.

Bin zur Alzheimer Gesellschaft gelaufen.

Liste mitgenommen.

Pflegegrad beantragt. Einen erbärmlichen Termin mit einer Frau vom MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen) absolviert. Widerspruch eingelegt. Gelogen.

Habe mir Pflegeheime angesehen.

„Seniorenstift St. Marien.“ – „Guten Tag, hier ist Maren Wurster. Ich rufe an wegen

meiner Mutter.“

„Pflegewohnheim Am Kreuzberg.“ – „Guten Tag. Ich wollte fragen, ob Sie momentan

Patienten aufnehmen.“

„Agaplesion Bethanien Haus Bethesda.“ – „Guten Tag, hier ist Wurster. Ich suche einen Platz für meine Mutter. Gäbe es die Möglichkeit, dass ich mal vorbeikomme?“

Und mit dir geredet, Papa.

Versucht, mit dir zu reden.

In deinem Sumpf. Uralte Morla, du.

Doch du bist einfach weiter versunken. Wie Mama.

Nur nicht im gleichen Gewässer.

Deines war Rotwein.

Bist nicht mehr aufgetaucht.

Und dann auf einmal,

da warst du schon an der Schulter operiert, da warst du schon aus der Reha zurück,

da habe ich schon wochenlang Mama umsorgt, das Berliner Leben ruhen lassen und

bei euch gewohnt, sie nachts in ihr Bett zurückgebracht, zugedeckt und beruhigt,

nachdem sie alle Glühbirnen in der Wohnung rausgeschraubt hat, also wirklich alle,

da habe ich das Kind schon getröstet gehabt, weil Mama ihm die Fernbedienung aus

der Hand gerissen hat, dabei war es doch gerade in ein Telefonat vertieft,

da habe ich schon jeden Tag versucht gehabt, Mama und das Kind auf den Spielplatz zu lotsen, ohne dass mir jemand entwischt,

also dann auf einmal nach dieser Zeit, da du wieder aus der Reha zurück warst und

ich bei euch war, wollte ich mit dir spazieren gehen, dass du mal an die frische Luft

kommst, wenigstens ein Mal, zusammen mit Mama. Das Kind läuft nebenher mit.

Wie immer. Aber du, du konntest kaum noch laufen.

Da hat es Klick gemacht.

Klick klack. Zick zack.

Du bist auch krank. Nicht nur alkoholkrank. Nicht nur depressiv. Nicht nur an der

Schulter lädiert. Richtig krank.

Wundert es mich? Nach all den Jahrzehnten des Raubbaus an deinem Körper?

Eigentlich wundert mich, dass du noch da bist.

Und, stirbt er jetzt endlich?

Und dann liege ich in dem kleinen, engen Zimmer bei euch, das nicht mein Kinderzimmer ist, aber das Zimmer, in dem ich immer schlafe, wenn ich euch besuche.

Mama hat jetzt endlich einen Platz im Pflegeheim.

Ich kann beharrlich sein: „Hier ist Maren Wurster.“ – „Noch mal Maren Wurster.“ –

„Wurster hier, entschuldigen Sie, dass ich mich noch mal melde, es geht um den

Platz für meine Mutter.“

Du, Papa, kommst erst mal ins Krankenhaus, General-Check. Dass etwas nicht

stimmt, wissen wir. Nur was genau, wissen wir nicht.

Primär polytop ossacär pluzmonal und hepatisch metastasiertes Prostatakarzinom, Erstdiagnose

02/2019

cT1c N+ M1 (OSS, PUL, HEP?)

PSA > 100, PSA 2451 ng/ml unter Blasenentleerungsstörung vor SPK

Subrapubische Katheteranlage und Hydronephrose

Tumorkonferenz vom 27.02.2019: bestrahlungsbedürftige Knochenherde, Beginn mit einer totalen Androgenblockade, im Verlauf zusätzlich Abiraterone

Therapieziel: palliativ

Beginn Biclumtamin am 28.02.2019

Radiotherapie zur Gynäkomastieprophylaxe 04.-06.03.2019

Tumoranämie, Typ c-Gastritis, Bulbitis

Weitere Diagnosen: Chronischer Nikotinkonsum (50 py), arterielle Hypertonie, chronischer Alkoholkonsum, Schulter-OP links

Und seit Mama fühlt, ahnt, weiß, vergisst und du sie wieder erinnerst, dass sie ins

Pflegeheim kommt, weil du ja nicht lügen kannst, weil du ihr ja einfach alles erzählst,

macht sie dir die Hölle heiß. Weint, zetert, jammert, klagt.

Du rufst mich an: „Wir müssen das alles abblasen. Es geht nicht.“

Ich komme trotzdem, um sie zu holen. Nach ein paar Stunden verstehe ich dich,

Papa. Es ist nicht zu ertragen. Auch wenn ich Mama anlüge, macht mir nichts, ihr

sage, sie käme ein paar Tage mit mir nach Berlin und wir würden uns die Stadt ansehen. „Mama, wir schauen uns die Stadt an, wie früher. Weil Papa, der kommt ja ins

Krankenhaus.“ Ihr Lamentieren hört nicht auf, zieht sich spiralförmig durch die Wohnung und alles in seinen Strudel.

Und du, Papa?

Du sagst, du weißt nicht mehr, ob du Männlein oder Weiblein bist. Und, du würdest

bald vom Balkon springen. „Ich springe bald vom Balkon.“

Und ich liege da in diesem engen Zimmer, das mich immer gleich wütend macht, weil

ich an den Tisch stoße, sobald ich vom Bett aufstehe.

Und ich möchte aufstehen.

Ich möchte alle Sachen zusammenraffen, in die Tasche packen, leise, damit Mama

nicht aufwacht und ins Zimmer kommt, du, Papa, schläfst ja komatös wie immer.

Ich möchte gehen und nie wieder kommen.

Nie wieder.

Nie wieder komme ich zu euch.

Soll Mama doch völlig den Verstand verlieren.

Sollst du doch in der Wohnung sterben. Oder vier Stockwerke tiefer auf dem Asphalt.

Mir egal.

Natürlich nicht. Natürlich bleibe ich. Wie Mama auch immer geblieben ist, ich bin

auch ihr Kind.

Ich bleibe und gebe Mama eine Diazepam. Euer Hausarzt hat mir das Mittel gegeben, Herr Doktor Auch. Als Kind hat er mich noch geduzt, jetzt siezt er mich: „Geben

Sie ihr nicht zu viel, sonst schläft sie und pinkelt sich ein.“ Und ich muss Mama ja irgendwie ins Flugzeug und wieder raus kriegen. Habe beim Buchen angeklickt, dass

ich Unterstützung brauche.

Warum gibts das nicht fürs Leben? Dieses Kästchen?

Klick klick klick klick klick

Brauche ich dann gar nicht. Mama ist zahm wie ein Meerschweinchen. Und ungefähr

auch so helle. Auf der Taxifahrt zum Pflegeheim fragt sie nach dem Stadtteil. Immer

wieder.

„Reinickendorf, glaube ich.“

„Tegel“, sagt die Taxifahrerin.

„Moabit.“

„Moabit.“

„Wedding.“

„Mitte.“

„Mitte.“

„Mitte.“

„Kreuzberg.“

„Immer noch Kreuzberg.“

Zwischendurch versuche ich ihr zu erklären, dass sie nicht bei mir schlafen kann, es

ist zu klein, mein Kind (ich sage nie, „dein Enkel“), nur zwei Zimmer, „du weißt schon,

Mama“, also daher eine Unterkunft direkt daneben. „Eine Pension.“

Eine Klingel.

Durch die Gegensprechanlage ist ein Mann zu hören: „Hallo?“

Erzählerin: „Hier ist Maren Wurster. Ich komme mit meiner Mutter.“

Gegensprechanlage, Mann: „Kommen Sie herein. Wir erwarten Sie schon.“

Ein Summer öffnet die Tür.

Als wir dann durch den Flur laufen, ich kenne ihn schon, habe sie mir ja alle angesehen, die Flure in all den Pflegeheimen. Also als wir zusammen mit der Seelsorgerin

und der Heimleiterin mit dem großen Blumenstrauß durch den Flur laufen, ich ziehe

Mamas Koffer hinter mir her, und Mama in ein Zimmer mit einer anderen Frau

kommt, die im Bett liegt und an die Decke starrt, versteht sie wieder etwas. Es bleibt

etwas hängen zwischen den Löchern in ihrem Gehirn. Und sie fängt an zu weinen.

Mama weint.

Ich öffne den Koffer und stopfe Mamas Kleidung in den Schrank.

Die Leiterin sagt: „Gehen Sie jetzt besser.“

Ich sage: „Mama, es tut mir leid.“ Es tut mir so leid.

Ich drehe mich um und trete wieder auf den Flur, gehe. Mama kommt mir weinend

nach. Papa, sie folgt mir, weil sie sonst doch verloren ist, sie versucht, sich an mir

festzuhalten, Papa. Und ich? Ich reiße mich los und fange an zu rennen,

renne, renne, renne, ohne zurückzuschauen,

den ganzen langen Flur entlang … höre ich sie. Höre sie weinen.

Tür auf, ins Treppenhaus, sehr viele Stufen im Kreis runter, eine automatische Tür,

bei der ich zurücktreten und warten muss, noch eine, wieder warten. Dann stehe ich

auf der Straße.

Und dann? Stirbt denn jetzt endlich mal jemand?

Dann kommst du nach, Papa, ins gleiche Pflegeheim. Die dich aufnehmen, obwohl

du noch keinen Pflegegrad hast. Aber ja, ich kann beharrlich sein.

Es ist leichter mit dir, im Flugzeug, im Taxi, in Reinickendorf, Tegel, Mitte und Kreuzberg. Obwohl du mittlerweile im Rollstuhl sitzt, mit einem Rollstuhl das Krankenhaus

verlassen hast, nicht mehr laufen kannst, wegen der Metastasen an den Hüften. Den

Rollstuhl zu handhaben, dich zu haben – viel leichter.

Nachts raucht Mike mit dir auf dem Balkon. Mike, der Altenpfleger. Dein Bezugspfleger.

Ihr lebt. Zwischen einer Auswahl eurer Möbel, die ich habe anliefern lassen. Den

Bauernschrank und Omas Nähmaschine. Die blaue Couch, die aus dem engen Zimmer, auf der ich immer geschlafen habe, auf der ich so geweint habe, in der letzten

Nacht, die sie in eurer Wohnung stand.

Du lebst dich ein.

Mama lebt, weil sie an deiner Seite ist. Du bist ihr Schlüssel zur Welt.

Ich besuche euch.

Ich besuche euch weniger. Selten. Kaum noch.

Du kommst ins Krankenhaus.

Der Kreis schließt sich.

Jetzt liegst du im Sterben in deinem Zimmer.

Mama ist nicht mehr im Zimmer neben dir.

Mama ist jetzt im „geschützten Wohnbereich für Menschen mit Demenz“. Die Tür

zum Wohnbereich lässt sich nur mit einem Code öffnen: 47-11. Keiner, der hinter der

Tür wohnt, kann sich diesen Code merken. Der Code muss nie geändert werden.

Im geschützten Wohnbereich kackt Mama auf den Boden im Aufenthaltsraum.

Im geschützten Wohnbereich legt Mama sich zu anderen ins Bett.

Im geschützten Wohnbereich fragt Mama nie nach dir.

Sie vermisst dich, Papa, ganz bestimmt, aber sie hat keine Kapazität mehr, es zu

verstehen oder in Worte zu fassen.

Auf ihre Art trauert sie bereits um dich.

Ich auch. Um euch beide. Ihr geht, Mama ist schon auf dem Weg, ist nur noch unscharf in der Ferne zu erkennen. Bald sind nur noch ich und das Kind übrig.

Jeden Tag küsse ich dich auf deine Stirn und lege die Hand auf deinen Haaransatz.

Und obwohl du so schwitzt, nur auf dem Rücken liegst, eine dicke Windeleinlage in

einer transparenten Unterhose trägst, ein Katheter deinen Urin ausführt (immer diese

Penetrationen deines Körpers), obwohl das alles so ist, riechst du immer noch gut

nach meinem Papa.

Vielleicht ist es einfach, dass du noch das gleiche Shampoo hast, das von Alpecin,

dass Mike dich mit deinem Shampoo wäscht. Nein, du riechst nach dir.

Der torfige Geruch vom Alkohol ist weg, der Rauch auch. Alle Sucht ist von dir abgefallen.

Wer hätte das gedacht?

Ich nicht.

Du und dein Geruch kommen ganz klar zum Vorschein. Wie schön ihr seid.

„Papa“, sage ich, „ich war bei Mama, es geht ihr gut.“

„Ja?“, sagst du.

Du fragst auch nicht mehr nach ihr. Nie.

Mama und du, ihr habt euch schon verabschiedet.

An dem Abend, als der Krankenwagen kam. Und du auf die Intensivstation kamst.

„Mama und ich sind gerade eine Stunde im Garten gesessen“, sage ich, „wir haben

die Sonne auf unsere Gesichter scheinen lassen und den Blättern im Wind zugehört.“

„Ja“, sagst du. Und dann: „Ich bin müde. Ich schlafe jetzt.“

„Schlaf gut, Papa, schlaf gut.“

Du kannst jetzt loslassen. Passt schon.