Laetitia Lenel

Das Dorf

1 
Ich komme mit dem ersten Herbstregen in Promontogno an. Der Zug aus Berlin hatte Verspätung, der letzte Bus nach oben ist bereits weg. Die Straßen glänzen, der Wind pfeift durch die Bäume. Irgendwo schlägt ein Fenster. Ich setze mich auf die nasse Bank vor die Post und sehe mein Adressbuch durch. Als ich Marias Nummer sehe, rufe ich an; sie ist die Eeinzige, die in Frage kommt. Ich nenne meinen Namen. Als sie nicht reagiert, nenne ich die Namen meiner Eltern und die Namen meiner Großeltern, auch wenn meine Großeltern seit über zehn Jahren tot sind. „Ja“, sagt sie, „ich weiß, wer du bist.“ Ich entschuldige mich für den späten Anruf und erkläre mich mit mehr Worten als nötig. Ich erzähle von dem verspäteten Zug aus Berlin, dem verpassten Anschluss in Hannover, dem Bus in Sankt Moritz. „Ich sah ihn noch wegfahren“, sage ich, „ich konnte ihm sozusagen noch winken.“ Nun also sei ich in Promontogno. „Unter anderen Umständen würde ich laufen, aber mein Gepäck, das Wetter“ – „ja“, unterbricht sie mich, „ich schicke Giovanni.“ Ehe ich mich bedanken kann, hat sie aufgelegt. 

Ich laufe zum Wasser. Im Holunder raschelt etwas; am Hang läuft ein Tier weg. Kurz darauf höre ich ein Auto; dann sehe ich Lichter. Es ist Giovanni. Vom Sitz aus öffnet er den Kofferraum. Der Koffer ist schwer, aber ich traue mich nicht, um Hilfe zu bitten. Mit beiden Händen hebe ich den Koffer an und schiebe ihn zwischen die Kisten und Tüten, die im Kofferraum liegen. Ich steige ein und bedanke mich. „Du bist meine Rettung“, sage ich, aber Giovanni nickt nur und fährt los. Er fährt schnell, in den Kurven zieht sich mein Magen zusammen. Aus dem Autoradio kommen schwere Beats. Ich denke an Clara, der auf dieser Strecke jedes Mal schlecht wird. Ich halte mich an der Tür fest und muss sauer aufstoßen. Ilan fährt in den Serpentinen nicht schneller als zwanzig, aber es hilft nichts, Clara bricht jedes Mal. Plötzlich sehe ich im Scheinwerferlicht etwas Schwarzes. Es springt von rechts auf die Straße, direkt vor unseren Wagen. Ich rufe etwas, aber es ist zu spät, ich spüre einen Aufprall, der Wagen wackelt ein wenig und kommt dann zum Stehen. Wir steigen beide aus. Das Fell ist noch warm, das Tier atmet schwer. Auf dem Kopf und an den Vorderbeinen ist Blut. Giovanni geht zum Auto und holt ein Gewehr raus. Ein Schuss, dann ist das Reh tot. 

Ich muss plötzlich weinen, es ist mir peinlich vor Giovanni, der spöttisch lächelt. Er zeigt auf das Reh und dann auf meinen Koffer, ob ich so nett sei? Der Koffer müsse nach vorn. „Er ist zu schwer“, sage ich, „ich schaffe es nicht.“ Widerwillig nimmt er den Koffer und legt ihn auf die Rückbank. Er holt zwei Decken aus dem Kofferraum, wir wickeln das tote Tier darin ein. Aus den Plastiktüten faltet er eine Art Plane, wir heben das Tier an und legen es auf die Tüten. 

Vor Almas Laden lässt er mich raus. Wieder macht er keine Anstalten, mir mit dem Koffer zu helfen. Ich will nicht noch einmal fragen und mache es selbst. 

Die Gassen sind dunkel, der Lärm meines Rollkoffers auf dem Kopfsteinpflaster hallt zwischen den Mauern wieder. Das Haus ist kalt. Es ist erst Anfang September, doch der Wind zieht durch die Balken und macht meine Finger steif. Morgen muss ich den Ofen anmachen. Ich bringe meinen Koffer nach oben und schlafe angezogen ein. 

 

2 
Erst kommt der Sturm und reißt die Blätter von den Bäumen, dann kommen die Regenfälle. Anderthalb Wochen lang höre ich beinahe täglich von Unglücksfällen; immer wieder rutscht jemand bei der Pilzsuche aus. Meist sind es Italiener aus dem Tal, die die Gegend nicht kennen. Im Dorf lachen sie über die Männer, die für drei Steinpilze ihr Leben riskieren. 
Ich lache auch. Ich sitze mit den alten Frauen auf der Bank vorm Palazzo und höre ihrem kehligen Singsang zu. Ich verstehe nur einzelne Worte, auch nach so vielen Jahren ist mir das Bregaliott fremd. Gestern Nachmittag habe ich mir ein Wörterbuch bestellt; ich bin fest entschlossen, den Dialekt zu lernen. 
Ich frage mich, was Ilan sagen würde, wenn er mich so sehen würde. Er hat aus seiner Ablehnung nie einen Hehl gemacht. Wie immer war er schnell mit seinem Urteil. Unsympathisch seien sie ihm, die Dorfbewohner, sagte er einmal, und dass ihre strenge Art einem den Magen verderben könne. Da kannte er den Ort erst drei Tage. Ich widersprach ihm, „man muss sich nur einlassen“, sagte ich, „ein bisschen Geduld haben, dann öffnen sie sich.“ Ilan lachte: „Als ob es so einfach wäre. Für die sind wir doch nur deutsche Feriengäste.“ Der Satz verletzte mich; so habe ich mich nie gefühlt. Was er wohl sagen würde, wenn er mich jetzt sehen würde, zwischen Clelia und Rosa auf der Bank vorm Palazzo? Gestern hat Clelia sogar den Arm um mich gelegt. Aber Ilan und ich haben keinen Kontakt. An den ersten beiden Tagen rief ich noch an; dann bat Ilan mich, damit aufzuhören. Clara komme damit nicht zurecht. Das letzte Mal, sagte er, habe sie noch zwei Stunden, nachdem wir aufgelegt hätten, geweint, und sei nicht einmal durch ihre Puppe zu beruhigen gewesen. Ich habe ihn gefragt, ob es ihm nicht auch bessergehe, jetzt, wo wir uns nicht mehr stritten, doch Ilan hat nur geschwiegen und vom Wetter gesprochen. 

Wir haben uns den ganzen Sommer über gestritten. Er will ein zweites Kind, ich möchte schreiben, reisen oder eine Andere werden. Er sagt: Sie soll einen Bruder oder eine Schwester bekommen, bevor es zu spät ist. Bevor es zu spät ist – das ärgert mich. Im Winter werde ich 34, ich bin noch jung. Manche Frauen bekommen mit 45 ihr erstes Kind. Gianna Nanini war sogar 54. Ich glaube, in Wirklichkeit geht es nicht nur um das Kind. Seit Claras Geburt ist irgendwas anders zwischen uns. Ilan kümmert sich rührend um die Kleine, aber manchmal scheint es, als hätte er darüber alles andere vergessen, das uns einmal ausgemacht hat. Er weiß immer, was Clara gerade braucht, und seit ich abgestillt habe, ist Clara tatsächlich ganz auf ihren Vater fixiert. Ich habe oft versucht, ihm etwas abzunehmen, ich würde gern mehr im Haushalt tun, Essen für Clara bereiten oder ihre Windeln wechseln, aber Ilan wäscht, spült, kocht und füttert in einem Tempo, dass ich kaum hinterherkomme. Meine Freundinnen beneiden mich, bei den meisten ist es andersherum, aber ich fühle mich seltsam überflüssig neben diesem eingespielten Team. Meine Mutter rät mir, die Situation zu nutzen und meinen eigenen Projekten nachzugehen, aber da ist nicht viel, dem ich nachgehen könnte. Eine Promotion wartet darauf, fertig geschrieben zu werden, doch die Unterbrechung durch Claras Geburt hat mich rausgerissen, und so richtig finde ich nicht mehr hinein. Eigentlich will ich schreiben, seit Jahren möchte ich schreiben, aber es gelingt mir nicht, mich drei Stunden zurückzuziehen, wenn Ilan und die Kleine nebenan spielen. 

Am Tag vor meiner Abfahrt war Ilan mit Clara und seiner Studienfreundin Laura im Zoo. Ich mochte Laura noch nie; ich hatte immer den Eindruck, als komme sie Ilan etwas zu nah. Ich habe es oft beobachtet: wie sie sich auf Partys neben ihn stellt und über irgendeinen mittelmäßigen Witz von ihm wie ein Pferd wiehert. Mehr als einmal hat ihre Hand danach scheinbar zufällig seine berührt. Und ich stehe daneben und weiß mir nicht zu helfen. Ob ich auch wie ein Pferd wiehern sollte? Als Ilan nach dem Zoobesuch nach Hause kam, wirkte er auffällig beschwingt. Er trug ein Buch unterm Arm, Lauras Buch. Es war gerade erschienen, Laura hatte ihm ein Exemplar mitgebracht. Das Buch trug einen albernen Titel, aber Ilan war das egal. Ohne eine Seite gelesen zu haben, war er sich sicher, dass das Buch großartig sei. Er habe immer gewusst, dass Laura irgendwann schreiben werde, sagte er. „Ach ja?“, habe ich gefragt, „und woher?“ Sie habe eben Talent, erwiderte Ilan, das merke man einfach. Selbst wenn sie von den alltäglichsten Begebenheiten erzähle, müsse er jedes Mal lachen. Ich nahm Clara auf den Arm und setzte mich mit ihr vor den Rechner. Ich sah meine Texte durch. Ich sagte: Wollen wir doch mal sehen, was Mama geschrieben hat. Aber meine Texte gefielen mir nicht. Ich öffnete zwanzig oder dreißig Dateien, überflog jeweils die ersten Seiten, während Clara auf meinem Arm weinte. Mir war auch zum Heulen zumute. Irgendwann kam Ilan ins Zimmer. „Merkst du nicht, dass sie Hunger hat?“ Er nahm mir die Kleine ab, sang ihr ein Lied vor und trug sie in die Küche. Clara gurrte zufrieden. Da entschied ich mich, wegzufahren. Ich habe mir noch am selben Abend ein Zugticket gebucht.

Ich kenne das Dorf seit meiner Kindheit. Früher sind wir vier Mal im Jahr hierhergefahren. Ich kenne jedes Haus, jeden Weg, jeden Baum. Die Kinder, mit denen ich früher gespielt habe, haben inzwischen selbst Kinder. Viele sind für ihre Ausbildung weggezogen, nach Zürich, Bern oder Chur, manche aber sind nach einigen Jahren wiedergekommen. Sie arbeiten als Waldarbeiter oder auf dem Hof ihrer Eltern. Sie haben schöne, große Häuser, die sie von ihren kinderlosen Urgroßtanten geerbt haben und in denen Platz für die Kinder ist, die heißen, wie die Menschen im Dorf immer hießen: Alma, Clementina, Erna, Andrea, Paolo, Marco. 

Ich war mir nie sicher, ob sie mich erkennen. Wir grüßten uns, wenn wir uns im Laden oder in den Gassen begegneten, aber ihre Gesichter verrieten keine Freude. Die älteren Frauen nannten mich Frederika oder Joanna, sie verwechselten mich mit meinen Cousinen. Ich habe sie nie korrigiert. Ich habe es immer als schwierig empfunden, mit den Menschen hier ins Gespräch zu kommen. Sie lächeln selten. Ihre Gesichter sind von Sonne und Kälte gegerbt. Italien ist nicht weit weg, doch den Menschen hier ist es fremd. Unten wachsen Palmen, Magnolien und Feigenbäume, die Menschen sitzen am Wasser, lachen und plaudern. Hier oben verrichten die Menschen ihre Arbeit schweigend, und die meisten arbeiten immer. 

Dieses Mal ist es leichter. Ich weiß nicht, woran es liegt. Ich komme mit den Leuten ins Gespräch. Alma hat mir von ihren Sorgen um ihren Sohn erzählt. Maria hat mit mir über die richtigen Methoden der Kindererziehung philosophiert. Sie meint, dass die Kinder in Städten nicht glücklich seien, und Mütter wieder länger zu Hause bleiben sollten. Sie erzählt mir von dem, was sie im Radio hört, Sendungen über die Globalisierung, den Kapitalismus, die Temporalinsolvenz. Sie sagt: „Alles muss immer schneller gehen, und wir haben immer weniger Zeit. Das kann nicht gesund sein. Oder?“ Ich schüttle den Kopf und reiche ihr den Milchkrug, „nein“, sage ich, „das kann nicht gesund sein.“ „Die Kinder“, sagt sie, „verwahrlosen auf dunklen Hinterhöfen, während ihre Eltern durch die Weltgeschichte fliegen, fünfzehn Stunden am Tag arbeiten und sogar nach Feierabend Emails schreiben. So erzieht man keine glücklichen Kinder. Oder?“ Ich schüttle wieder den Kopf und reiche ihr das Geld. Von Clara habe ich nicht erzählt; vielleicht hat sie vergessen, dass ich eine Tochter habe. Mit den Männern aus Bondo habe ich unten Averna getrunken. Wir haben nicht gesprochen, aber Bruno hat mich lang angeschaut. Er ist schon älter, aber er hat wache, strahlende Augen und schöne Hände. 

Die Landschaft beruhigt mich. Die Birkenzweige vor den Gletschern schaukeln im Wind, die Äste knarren wie Türen, die Kolkraben über mir krächzen. Die Wege sind schlammig, der Aufstieg nach Daira ist gesperrt. Meist laufe ich bis zur Absperrung und kehre dann um. Ich setze mich auf die Bank hinter dem Wasserfall und schaue aufs Dorf, die Schornsteine, die Schieferplatten, höre die Kirchglocken und das dumpfe Bellen der Hunde. Ich sehe die Schafe wie weiße Wollknäuel über die Hänge laufen und bin fast glücklich. Am Dienstag habe ich Alma im Laden geholfen, gestern hat Elisa mir einen Kopfsalat vor die Tür gelegt. Bruno hat mir versprochen, mich im Oktober mit auf die Murmeltierjagd zu nehmen. Ich gehöre dazu, ich bin jetzt eine von ihnen. Ich merke es an der Art, wie sie mich grüßen, und dem vertrauten Bregaliott, das ihnen mir gegenüber herausrutscht. 

Ich schreibe wieder. Seit vorletzter Woche ist kein Morgen vergangen, an dem ich nicht in dem kleinen Zimmer meines Großvaters gesessen habe, an dem Kirschholztisch, an dem er immer saß. Anfangs habe ich nur Einkaufszettel und Listen geschrieben. Rosen schneiden, Axt schleifen, Holz hacken. Dann wurden aus den Stichworten Sätze. Eine Szene, die ich tags zuvor beobachtet hatte, eine Bemerkung von Maria. Ich nenne es meine Etüden, meine täglichen Übungen, bevor ich beginne. 

 

3 
Im Oktober beginnt die Kastanienernte. Der süße Geruch des Dörrfeuers zieht bis in den Garten hinauf. Ich laufe jeden zweiten Tag an den rotgelben Bäumen vorbei nach Italien. Als ich Maria vor einer der Hütten treffe, lädt sie mich ein: Am Abend wollen sie vor Ernestos Stall feiern. Das alljährliche Kastanienfest, das ganze Dorf ist dabei. 

Ich backe ein Blech Zwetschgenkuchen und mache zwei Liter Limonade. Als ich am Nachmittag den Speicher fege, höre ich das Alphorn. Ich habe es seit Jahren nicht mehr gehört, der Klang weckt verschwommene Erinnerungen an ein Fest in meiner Kindheit, eine Wanderung mit meinen Eltern. Zwischen zwei Stapeln Feuerholz entdecke ich das Nest eines Tieres. Ich schiebe die Äste zurück, trete auf den Balkon und hänge die Wäsche ab. Die Sonne steht über den Bergen und spiegelt sich in den Fenstern des Palazzos wider. Der Himmel ist wolkenlos, die Tannen auf der gegenüberliegenden Talseite wirken gestochen scharf. Darüber liegt Schnee, der in der Nachmittagssonne beinahe blendet. Im Beet vor der Felswand nebenan kniet Erna und jätet Unkraut. „Bis später“, ruft sie und hebt die Hand. 

Als ich komme, sind die meisten schon da. Erst spielen Paolo und Mara auf dem Alphorn, dann holt Elisa ihr Akkordeon heraus. Bruno und Alma singen dazu, es sind schöne, traurige Lieder im Dialekt, die ich nicht kenne. Ich stelle mich zu Giovanni und Marco ans Feuer und stoße mit ihnen an. Bruno lächelt mir zwischen den Strophen zu, und ich summe die Melodien mit, die Alma und er singen. Über uns kreist ein Falke, aus dem Stall dringt der warme Geruch der Tiere. Meine Beine sind leicht, der Rotwein schmeckt herrlich, ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal so frei gefühlt habe. 

Später sitzen wir an einem langen Tisch, in Decken und Schals gehüllt, die Maria und Alma gebracht haben. Jemand erzählt von den Bilgers, denen wieder eine Kuh gestorben ist, und Marco lacht: „Man sollte sich eben mit Tieren auskennen, bevor man entscheidet, Bauer zu werden.“ Elisa erzählt von der Katze vom Doktor und der Frau aus Basel, die sich seit letztem Jahr um das Tier kümmert. Sie macht die Frau nach, ihr hysterisches Schwyzerdütsch, das hier oben seltsam fremd wirkt. Bruno schenkt mir Wein nach. Später werden wir zusammen auf Daira steigen. Ein besseres Wetter für die Jagd finden wir nicht; die Oktobersonne hat den Matsch aufgeleckt, und übermorgen, sagt Bruno, kommt der Regen zurück. 

Marco erzählt vom alten Schulhaus am Dorfeingang, das verkauft werden soll, nachdem es fünf Jahre leer stand. Er hat es heute erfahren. „Deutsche“, sagt er, „mal wieder.“ 
Die anderen seufzen und schütteln den Kopf, nur Ernesto haut mit der Hand auf den Tisch, so dass das Geschirr klappert. „Man müsste eine Initiative starten“, ruft er, „protestieren, so geht’s doch nicht weiter.“ 
Ich verstehe nicht und frage nach. Ob es denn schlecht sei, wenn ein leerstehendes Haus verkauft werde? 
„Das ist es nicht“, antwortet Paolo anstelle von Ernesto, „aber den Deutschen gehört bald das ganze Dorf.“ Er nennt Zahlen, von dreihundert Häusern seien nur noch rund hundert im Besitz der Einwohner. Wenn das so weitergehe, sagt er, lebe man bald in einem Geisterdorf, in dem nur im Sommer noch Leben sei, wenn die Touristen mit ihren Sandalen und sonnencremeglänzenden Gesichtern durch die Gassen schlappen. „Und die Wiesen? Die Tiere? Die Gärten? Wer soll sich dann darum kümmern?“ 
Romana nickt. „Seit hundert Jahren begründet man jeden Verkauf, jeden Straßenbau, jede neue Garage mit dem vermeintlich notwendigen Fortschritt. Doch in Wirklichkeit macht man den Dorfbewohnern das Leben mit jedem Jahr schwerer. Die Touristen treiben die Grundstückspreise in die Höhe und lassen ihre Hunde über unsere Wiesen laufen, so dass die Tiere auf den Weiden krank werden. Unsere Kinder ziehen fort, weil die Touristen ihnen Flausen in den Kopf setzen. Und das Wissen, das man seit Jahrhunderten weitergegeben hat, stirbt mit den Alten aus.“ 
Mara spricht von den Traditionen der Vorfahren, der Sprache, den Liedern. Das schmeiße man doch nicht einfach so fort. „Oder? Und vor allem: wofür? Damit unser Ort wird wie der Rest der Welt? Fußgängerzonen, die sich überall gleichen, Ladenketten, Brötchen aus Fertigteig, Äpfel aus Südafrika?“ Sie kenne das, sagt sie, sie sehe es tagtäglich im Fernsehen. „Unsere eigenen Eltern würden ihre Heimat nicht wiedererkennen, so weit ist es mit uns gekommen. Und ehe man sich versieht, werden auch wir in unserem eigenen Dorf Fremde sein.“ Als sie von ihrem Glas aufblickt, sehe ich Tränen in ihren Augen. 
„Denn so ist es immer“, erklärt Bruno, „erst kommen die Deutschen und nehmen sich, was seit Jahrhunderten im Besitz der Familien war. Man begründet es mit dem demografischen Wandel, ökonomischer Notwendigkeit, und wenn man Zweifel anmeldet, kommen sie mit der Moral.“ Darin, lacht er, seien die Deutschen ja schon immer ganz groß gewesen. Und plötzlich dürfe man nichts mehr sagen, ohne dass irgendeiner die Moralkeule schwinge, die Deutschen mit ihrem ewigen schlechtem Gewissen, ihrer politischen Korrektheit, ihrem Regenbogengedöns. „Und wir? Wir können sehen, wo wir bleiben. Erst nehmen sie uns Häuser und Arbeitsplätze weg, dann dürfen wir nicht einmal mehr dagegen sein.“ 
„Und plötzlich sind wir diejenigen auf der Flucht“, sagt Ernesto. „Und alles, was dieses Dorf einmal ausgemacht hat, ist nicht mehr.“ 

Dämmerung stülpt sich über die Berge und taucht den Stall und die Gesichter der Anderen in blauviolettes Licht. Über uns kreisen Fledermäuse. Ich möchte etwas sagen, möchte widersprechen, doch während ich noch nach den richtigen Worten suche, haben sie schon ins Bregaliott gewechselt. Mit gesenkten Stimmen sprechen sie weiter. Der Name des Dorfes fällt, einer lacht, doch der Sinn ihrer Sätze erschließt sich mir nicht. Immer wieder ruht ihr Blick auf mir. Ist das Häme in ihren Augen? Feindseligkeit? Ich stehe auf und hole den Zwetschgenkuchen, doch die meisten lehnen dankend ab. 

Das Feuer steigt in Funken nach oben und verglüht dort. Irgendwo bellt ein Hund. 
Bruno zeigt auf den Himmel und sieht mich an, »wir müssen los«, sagt er, »sonst wird es zu spät.« 
Ich möchte nach Hause, ich bin plötzlich sehr müde, aber Bruno ist schon aufgestanden und hat seine Warnweste angezogen. 
Er läuft hinter mir und leuchtet mit einer Taschenlampe den Weg. Ich habe nicht die passenden Schuhe an und rutsche aus. In den Büschen neben uns raschelt es, ich zucke zusammen, aber Bruno winkt jedes Mal ab: nicht der Rede wert, nur Amseln, Füchse oder Blindschleichen. Wir laufen bis hoch auf Daira, an der Absperrung vorbei, durch den Wald und über die Wiesen. 
Als wir oben angekommen sind, auf der Wiese, auf der auch die Almhütte steht, höre ich das erste Pfeifen. Bruno schaltet die Taschenlampe aus und bedeutet mir, stehen zu bleiben. Er selbst läuft weiter, zieht einen Halbkreis, nur seine Warnweste hebt sich von der schwarzen Dunkelheit ab. Auf der Höhe des Brunnens bleibt er stehen, ich höre sein leises Schnaufen. Er nimmt sein Gewehr, legt es an, und plötzlich sehe ich es: Sein Gewehr ist auf mich gerichtet. Ich will schreien, doch kein Ton kommt aus meiner Kehle, und meine Glieder sind schwer und taub. Ich habe gesehen, wie sie über mich gesprochen haben, habe ihre Blicke gesehen, als es ums Dorf ging, vorhin, am Tisch vor Ernestos Stall. Ich hätte nicht mitkommen sollen, hätte zurück ins Haus – 
Ein Schuss. 
Das Pfeifen verstummt. 
Bruno läuft auf mich zu, ruft etwas, Triumph liegt in seiner Stimme, aber ich höre nicht hin, ich sehe auf die schwarzen Bäume, die Berge, den Himmel. Der Schnee auf den Gletschern leuchtet wie flüssiges Silber. Morgen fahre ich nach Hause, zurück zu Ilan und Clara, und ohne auf Bruno zu warten, drehe ich um und laufe nach unten.