Konrad H. Roenne

This Song is dedicated to the Somewheres

This Song is dedicated to the Somewheres; oder:
Poem
von der Verteidigung
des Abendlandes
auf dem Arnimplatz
in zehn Kapiteln,
einem Exkurs
und einem Prolog sowie
zwölf Anmerkungen

 

„Es geht vor allen Dingen um Verdrängung. […] Und Verdrängung heißt Inwertsetzung, Aufwertung von Stadtteilen, die nur gelingt, wenn auch die Bevölkerung verdrängt wird.“ Andrej Holm (13. Juli 2016)

 

„[…] ich lebe garnicht mehr; eher wohne ich nur noch […] und manchmal entschließe ich mich, hinaus auf den Platz zu gehen, was aber nicht immer gelingt.“ Henriette Vogel (2. Oktober 1811, Brief an Heinrich von Kleist)

 

„Aus alter Zeit.“

 

[Prolog]

Groß und fürchterlich war es, das Jahr **** nach Christi Geburt, das fünfundzwanzigste aber nach der Umgestaltung des Arnimplatzes, an die sich nur wenige erinnern können: sie waren damals nicht hier und folglich nicht dabei, und an die sich noch weniger erinnern möchten: denn man ging nicht zimperlich vor. Ein Bauarbeiter oder vielmehr ein Gärtner beziehungsweise Landschaftspfleger und dazu zwei Subalterne, wohl Bürohengste, große Kladden in der Hand und lederne Umhängetaschen lässig über der Schulter, allesamt Abgesandte des Teufels der Veränderung, standen plötzlich bei uns und sprachen: Ihr müsst hier nu weg, wird umgebaut, die Bänke verschwinden erstma!
So beginnt es ja immer.
Und die beiden fuchtelten mit ihren Notizblöcken oder Kladden herum und der Gärtner steckte bedrohlich seine Hände in die Hosentaschen. Wir nickten und meinten damit: Hm!, obwohl Widerspruch angebracht war, wir widersprechen hätten müssen oder wenigstens: hätten können. Wir tranken aus und gingen und kamen erst wieder, als die Umgestaltung des Platzes komplett abgeschlossen war, nicht einen Tag früher; dabei standen die Bänke schon lange vor der Wiedereröffnung und wurden benutzt. Von anderen wohlgemerkt!
Hinterher, als wir die Sache zu vergessen hofften, aber mit wütenden Gesprächen am Brennen hielten, da meinte jemand von uns: Höret, diese Umgestaltung, das war in Wahrheit gar keine! Die Umgestaltung des Arnims war – genau genommen! – eine Rückgestaltung des Arnims, den man durch die vorherrschende Misswirtschaft und die allgemeine Geschmacklosigkeit von sich selbst entfremdet und von seinem ursprünglichen Aussehen entfernt hatte; war insofern eine schöne Idee, die uns und unser stilles, ehrbares Dasein hier, auf dem Arnim, in ihrer Umsetzung aufs Schwerste störte, die uns erniedrigte, sodass wir von nun an gegen schöne Ideen und besonders gegen deren Umsetzung sein wollen, die uns jedoch etwas Ursprüngliches zurückbrachte, das wir längst verloren geglaubt hatten.
Halt’s Maul!, sagten wir: Nun wissen wir, wie viel Erde der Mensch braucht.
Er aber antwortete: Dies, Freunde, stell’ ich euch anheim!
Sein Name: Advokat.

1a

Wanderer, Wanderin!
Kommst Du von Nordosten zum umgestalteten Arnimplatz, hast Dir vielleicht Stärkung im Späti in der Rob(e)son-Straße1 geholt und gehst nun weiter, so wähle den linken der beiden Wege, die nebeneinander – getrennt durch kleine Beete / großen Wüstungen gleich – zur Mitte des Platzes führen: nach wenigen Metern wirst Du uns finden.
Oder Du näherst Dich von Südosten her: hast Geld sparen wollen und statt des Spätis die Kaufhalle in der Schivelbeiner gewählt, die – das fällt Dir schnell auf – gar keine Kaufhalle, sondern ein Rewe-Markt ist, in dem sich die Türen der Kühlregale durch leichtes Berühren derselben automatisch öffnen, die für uns aber die Kaufhalle bleibt und bleiben wird, denn wir geben nichts auf Namen und auf sich automatisch öffnende Türen schon gar nicht; wenn Du also von Südosten zum umgestalteten Arnimplatz kommst, so nimm den rechten der beiden Wege und biege nach Erreichen der Platzmitte rechts ab, in Richtung Nordosten: nur wenige Meter noch, dann bist Du bei uns.

Von Südwesten oder von Nordwesten wirst Du ganz sicher nicht kommen – was solltest Du zuvor in dieser Gegend gesucht oder getan haben?

1b

Und achte auf die Geräusche, folge dem Brüllen von Advokat:
Stell’ er anheim – so soll’s sein!
Vielleicht kannst Du Tass, unseren Matthias!, singen hören: Ich bin Bomberpilot, ich bringe euch den Tod, / Bomberpilot, Bomberpilot!2 Sein Repertoire ist beschränkt – nämlich zwei –, besitzt aber einen hohen Wiedererkennungswert, der durch das Bellen Knallers, des angeblichen American Bulldog von Tass, welcher stets kurz nach seinem Herrchen einsetzt, noch einmal gesteigert wird: Von all unsern Kameraden / war keiner so lieb und so gut, / wie unser kleiner Trompeter, / ein lustiges Rotgardistenblut.3
Wir brumm-summen gerne mit: laut und lauter, und prüfen die Größe des Vertrauens, das sich in der Welt vor uns verbirgt.

[Exkurs]

Brüllen und Singen und das Bellen Knallers dazu, und ein Kind geht an der Hand seiner Mutter oder seines Vaters – je nachdem, das variiert hier – vorüber; natürlich können wir erkennen, was es denkt, sehen seine Verunsicherung, die Furcht: Warum sind sie so laut? Warum sitzen die da, ist das ihre Wohnung, gehören ihnen die Bänke ganz allein?4 Sind sie verrückt? Hat es mit den Bierflaschen oder gar mit dem Hund zu tun?5
Und wir könnten antworten:
Liebes Kind, fürchte dich nicht! Ein jeder an seinem Platz, liebes Kind! Noch sind deine Eltern bei dir, eines Tages aber könnte dein Vater, könnte deine Mutter bei uns sitzen und brüllen oder singen und einen Hund bellen lassen, während ein anderes Kind vorübergeht.
Zu diesen unterlassenen Worten schweigen wir, kucken böse, grinsen.
Dann fragt es seine Mutter oder seinen Vater, je nachdem, was mit denen da los sei; erst außerhalb unserer Hörweite erhält es eine unzureichende Antwort.
Auch wir hätten einiges vorzubringen:
Warum sollte das Quengeln und das Kreischen von Kindern, das Schreien der Babys, das ohrenbetäubende Knirschen der Kinderwagen- und Buggyreifen auf den Wegen des Arnimplatzes schöner sein als unsere spärlichen Töne? Habt ihr keine Wohnung, in der ihr bleiben könnt?

2

Bist Du dann bei uns, findet sich vielleicht Platz auf einer der Bänke, sechs an der Zahl, dazu zwei Seiten offen: als Zugänge. Ja, tritt heran und schau! Ein Oktagon. Unser Castel del Monte, kommendes Weltkulturerbe, das euren dunklen Zeiten ein wenig Licht spenden wird. Frag die Tauben! Frag die Spatzen und die Amseln, die allerdings zu gern am Boden bleiben; frag die Meisen, Blau- und Kohl-, die Krähen und auch die Eichhörnchen oder klettere selbst auf einen Baum, wenn Du Zweifel hast: von oben wirst Du die acht Ecken sehen! An die zwei offenen Stellen musst Du Dir je eine Bank denken; so viel Phantasie setzen wir voraus.
Hier sitzen wir und stehen manchmal auch auf: um Bier zu holen oder Wasser abzuschlagen oder für einen Moment den Gesprächen, die von uns handeln und unser endgültiges Verschwinden hinauszögern, zu entfliehen.
Hier fallen uns im Herbst die Eicheln auf den Kopf oder auf die Hand, die entspannt auf dem Oberschenkel oder neben uns auf der Bank liegt; im Übrigen viel schmerzhafter als ein Kopftreffer.

Hier begrüßen wir den Ostwind und trotzen ihm, wie er sich, über die Rob(e)son und die Schivelbeiner kommend, auf dem Arnim austobt und schneidige Versuche unternimmt, den Leuten zu beweisen, dass sie schwach sind.
Hier sagen wir zu Dir:
Nenn uns Sternbürger!
Oder Sternis, falls Du auf eine Silbe verzichten willst. Denn wir trinken Sternburg, Export! Bedenke das Preisleistungsverhältnis: Zu einer Masse von Überzeugten zu gehören: in diesem Fall kein Problem. Ein feste Burg!, ein heller Stern!, dessen Licht von unseren Händen strahlt, mit Flaschen darin, oder vom Boden aus, auf den wir von Zeit zu Zeit und ganz nah an den Bänken unsere Getränke abstellen.
Hier wachen wir, über alles: die Wege, das Denkmal mit dem sitzenden Arnim-Ehepaar – sie eine fette Matrone, er ein Elvis –,6 die beiden Spielplätze, die sogenannten Rasenflächen, leinenlose Hunde, die morgendliche Fitnessgruppe mit ihrer lächerlich herrschsüchtigen Musik, Familien, die sich für jung halten und die am Wochenende zur Übernahme unserer Wohnungen Schlange stehen, den Mann vom Grünflächenamt, der mit Motorsense oder Laubbläser ums Oktagon herumscharwenzelt, und immer einen Plastesack dabei; der landet irgendwann auf der Pritsche des Wagens vom Grünflächenamt. – Allmächtiger!, sagt Advokat: Willste das dein Leben lang machen?
Hier ist auch Freude, etwa wenn wir Nicht-ins-Loch-Kucken spielen: Mit Daumen und Zeigefinger wird ein Kreis gebildet und irgendwo hingehalten, unauffällig; man versucht die Aufmerksamkeit der anderen dorthin zu lenken, wo sich der aus Daumen und Zeigefinger gebildete Kreis, das Loch, befindet, und sie zum Hinkucken zu verleiten, zum Ins-Loch-Kucken anzustiften. Wer reinkuckt, verliert, bekommt einen Schlag mit der Faust auf den Oberarm und wird zur Strafe und zur Freude der anderen dort postiert, wo keine Bank steht: zum Schutz unserer offenen Flanke am Wegesrand. Bis es einen nächsten erwischt und die Ablösung erfolgt.

3

Wir waren nicht viele, wir wurden weniger. Morgens lagen manchmal welche in der Nähe; weint da einer? Selten kam jemand hinzu, und außerdem gab es ein paar, die tranken kein Sterni; allen voran der Graue, der mit dem Fahrrad zum Arnim kam, stets Weißwein aus einer Flasche mit praktischem Schraubverschluss runterstürzte und daher seinen Namen hatte: es handelte sich um Grauen Burgunder, in seltenen Fällen um einen Pinot Grigio, was, wie uns der Graue erklärte, hinsichtlich der Rebsorte aufs Gleiche hinauslaufe.
So, so! –
Ein Vorteil war: er musste weniger pissen. Ein anderer: dass wir seine Flaschen zuordnen konnten und er beim Streit ums Leergut keine entscheidende Rolle spielte; außer er meinte zu wissen, wem welche der leeren Flaschen gehörten, und er sich zum Richter erhob, weil Advokat aufgrund des eigenen Sterni-Leerguts als befangen galt.
Und dann war da noch jemand, der in einer Einrichtung lebte, betreutes Wohnen, behauptete er, für den wir keinen Namen fanden, er nannte uns auch keinen, und der auf Schwarzbier schwor – das konnten wir natürlich nicht für voll nehmen. Die Begründung seiner Getränkewahl machte uns misstrauisch: Er weiß nicht, wohin mit seinem Taschengeld, das man ihm in der Einrichtung auszahlt, sodass er sich gezwungen sieht, möglichst teures schwarzes Bier zu kaufen und zu trinken – abends, mittags und morgens, nachts.7 Na ja.
Tass aber, und Advokat und die Gigi, die höchstwahrscheinlich Gisela hieß oder Gabi, und einer, der nur Nase genannt wurde, obwohl seine höchst unscheinbar war, die hielten zum Sterni; Knaller bekam Wasser.

4a

Tass und Knaller waren morgens, wenn unser Herrgott die Sonne über die Dächer und die Dachgeschosswohnungen der Häuser schob und Kinder sowie Mütter und Väter mit Kindern über den Arnim zur Schule oder zum Kindergarten und die Väter und Mütter von dort ihren eigentlichen Zielen zu hasteten, die Ersten im Oktagon. Manchmal saß bereits scheu ein Vietnamese auf einer der Bänke, laut Tass: der Fidschi, laut Nase: Charlie. Er verband das Nützliche mit dem Richtigen, versuchte Zigaretten zu verkaufen: geschickt und unauffällig und lauernd. Steuerfrei, aber kaum Erfolg dabei. Ein guter Mann, auch wenn er keiner von uns war.
Und gab es zwischen dem Schweigen und dem Gesang ein wenig Platz, so begann Tass zu reden; Knaller und der Vietnamese lauschten gebannt: Stell dir vor, es ist zweitausenddreizehn, Frühjahr, der zweite April, erste echte Wärme, auf die Jacke kannste verzichten, und wir gehen zu dir nach Hause. Dort zeigst du mir vielleicht ein Buch oder eine sehr unscheinbare Vase, die beide ganz was anderes meinen: schlägst das Buch auf oder greifst in die Vase hinein und holst einige Scheine hervor: sicher ein paar hundert, und auf dem Konto ist noch was? – gut, wir heben’s zusammen ab; am Geldautomaten schaue ich weg, während du die Geheimzahl eintippst. Aber auch auf mich ist Verlass: mein Anteil liegt bei meiner Mutter, sie weiß von nichts, ihr Häuschen: am Stadtrand, lass uns laufen! – die Straßen, der Verkehr, die Autos: die Wichser können uns mal! Wir hören nicht auf Mamas Schimpfen – vielleicht freut sie sich, mich wiederzusehen –, steigen gleich in den Keller hinab, in den Geruch, der sich nicht ändern will; Mama bleibt lieber oben. Dort das Geld, aber ich nehme nicht alles mit, irgendwann werde ich wiederkommen. Zurück zum Wichtigen: das ist ein guter Tag, nun sollst du erfahren, worum es geht – wir können zusammenlegen, ein Bitcoin kostet einhundert Dollar, zweiter April zweitausenddreizehn, wir haben Geld für elf, vielleicht zwölf von den Dingern. Dunkle Gestalten, Diebe am Wegesrand, doch wir sind stark, zu zweit, sicher kannst du irgendwelche Kampfsporttechniken, ich habe ein Messer dabei, fiese breite Klinge, und wir knurren sie an: Zeigt Respekt, ihr Maden! In dieser Welt setzen sich die besten Ideen durch! – Sommer, Herbst und Winter, und wieder Frühling, und das Ganze noch ein paarmal, wir werden ungeduldig, bleiben aber hart, wir müssen warten, natürlich!, das haben beste Ideen so an sich. Geduld, sag ich dir, ist der verdammte Königsweg zum Erfolg, denn erst zweitausendsiebzehn, im Dezember, am siebzehnten nämlich, ist es so weit und wir verscherbeln die Dinger und gehen mit zweihunderttausend nach Hause, wieder auf den Arnim: Weihnachten steht vor der Tür, wir sind großzügig, aber mit Weitsicht, man muss nicht gleich übertreiben. Alle sind stolz auf uns; vielleicht auch Neid.

4b

Du verstehst doch was von Computern?
Der Fidschi schüttelte den Kopf und erhob sich.
Vergiss es! Du bist halt nicht von hier.

5

Wenn es voller wird im Oktagon, verschwindet der Vietnamese; er muss gehen, selbst wenn ein Plätzchen für seinen schmalen Hintern frei wäre, seine wahre Aufgabe ist hier erledigt: er hält die Stellung für uns, er verstand das von Anfang an.
Nach dem Vietnamesen und Tass und Knaller kommt der Graue angeradelt, stellt gruß- und wortlos sein Fahrrad an einer der Bänke ab, holt anschließend eine Weißweinflasche aus seinem Rucksack und schraubt diese wütend auf: den ersten großen Schluck nimmt er im Stehen. Knaller bellt vor Freude und springt im Oktagon herum, bis Tass ihn mit einem Nu is aber mal gut! zur Räson bringt. Unsere Frage: Grauer, teurer Freund, wohnst du irgendwo oder lebst du nur bei uns? Einst hatte er eine Wohnung in der Nähe des Arnim so wie wir; dann gab ihm sein Vermieter Geld – viel! –, damit er auszog. Man habe für das Haus samt der Grauenwohnung Pläne, in denen dieser leider keine Rolle spielen könne. Seitdem kommt der Graue mit dem Fahrrad auf den Arnim.
Advokat und die Gigi und Nase, die sind unser Adel, Edelleute, haben mächtige Altmietverträge und erscheinen, wann sie wollen, zumeist jedoch im Laufe des Vormittags; weder zwingt sie ein Knaller, früh raus auf den Platz zu gehen, noch müssen sie weite Wege zurücklegen, sie fallen aus dem Bett auf den Arnim und lassen das die anderen spüren: Gibt’s was umsonst oder warum seid ihr schon hier!? Doch der Tag wird kommen, da müssen auch sie sich einer Anmeldung von Eigenbedarf und der Kündigung stellen. Mit diesem Wissen schweigen wir sie an und beobachten sie genau.
Unsere Gespräche beginnen, wenn die Kindergartenkinder mit ihren Leuchtwesten, von den beiden Spielplätzen kommend, an uns vorbeiströmen und nicht grüßen. Dann schlägt die Stunde, die uns am liebsten ist, uns am nächsten steht, deren Abkömmlinge wir sind. Unsere Zeit: Hoch Mittag! Wir sprechen:
Über das Fahrrad des Grauen, das er stets so an einer Bank abstellt, dass sich niemand auf diese draufsetzen kann.
Übers Wetter.
Über jene, die nicht mehr bei uns sind und von denen wir lange nichts gehört haben; sowie jene, die nicht mehr bei uns sind, welche wir jedoch kürzlich – purer Zufall! – gesehen oder getroffen haben oder die von anderen gesehen oder getroffen wurden, welche wiederum uns davon berichtet haben.
Übers glaziale Bewusstsein, welches hier, auf der Barnim-Grundmoränenplatte,8 ganz besonders pulsiert.

Über den Grauen, dem laut Tass damals, als man ihn aus seiner Wohnung rauskaufte, genügend Geld zur Verfügung gestanden habe, um in ein paar Bitcoins zu investieren: Du hattest doch die Möglichkeit, du verdammter Idiot! Der Graue ließ sie verstreichen und gab das Geld für anderes aus, erwarb eine größere Menge an Adderall: ein Medikament, eine Waffe in Kapselform, in den Vereinigten Staaten von Amerika hyperaktiven Kindern verabreicht, damit sie ein wenig zur Ruhe kämen, das bei nicht-hyperaktiven Erwachsenen, wie etwa dem Grauen, eine ganz andere Wirkung zeigte: Glück und Unruhe und kaum Schlaf – er konnte mehrere Tage, Nächte am Stück auf dem Arnim verbringen, ohne nach Hause, oder wohin er sonst verschwand, radeln zu müssen; und wenn doch: so kehrte er alsbald zurück. Uns bot er welche an – Nee, lass ma! – und irgendwann waren sie aufgebraucht und ihm fehlte das Geld, sich neue zu beschaffen, seine sorglose Zeit endete, die Augen schrumpften und stellten ihr Leuchten ein.
Über alte Zeiten reden wir und das Kommende, denn wir haben Kenntnis.
Über die Steuern, die auf den Grauen zukämen, wenn er die Bitcoins, hätte er damals welche erworben, gewinnbringend verkaufen würde; die Gigi ist überzeugt: Der Fiskus wird ordentlich zuschlagen!
Übers Wetter.
Zwischendurch spielen wir Nicht-ins-Loch-Kucken: hauen den Verlierern auf die Oberarme und schicken sie an unsere offene Flanke am Wegesrand.
Bis der Abend kommt und die Dunkelheit und wir über die leeren Flaschen stolpern, wenn wir kurz das Oktagon verlassen müssen. Es ist die Zeit der Reife, wir zweifeln und wir streiten und haben Furcht, dass es endet; wir trinken die letzte Runde Sterni und Pfeffi-Schnaps. Manch einer sehnt sich danach, gemeinsam einzuschlafen.

6

In jenem Sommer nun, da sollte die Furcht zunehmen, das Licht war am Tag so still und des Nachts bedrohlich grün. Wir stritten uns ständig wegen Kleinigkeiten, vor allem aber ums Leergut, das Abend für Abend einen beträchtlichen Umfang angenommen hatte; der Durst stieg in Sphären, die bisher unerforscht geblieben. Advokat reklamierte jedes Mal den Lö-Lö-Löwenanteil der lee-lee-leeren Sterni-Flaschen für sich und holte sein rotes Taschenmesser hervor, ohne es jedoch aufzuklappen.
Die Hitze: bereits am Morgen unerträglich, der Arnim flirrte, die Fitnessgruppe drehte jedes Mal durch, schrie und stöhnte ohne Erlösung; Knaller rührte sich kaum, und wir waren in ernsthaften Verhandlungen darüber, ins Einkaufs-Center, ein Arkadien ganz in der Nähe, umzuziehen, obwohl dort Rauchverbot herrschte und man rausgeschmissen wurde, wenn sie einen mit Bier, geöffnet!, erwischten. Aber: das Center9 lockte mit Klimatisierung.
Zu allem Unglück hatte sich ein alter Dicker im Rollstuhl unserer Runde angeschlossen, ohne dass wir damit einverstanden gewesen wären – kam jeden Vormittag maßlos langsam, Tiptopschritte machend, setzte einen dicken Fuß vor den anderen, zog so sein Gefährt und sich zum Oktagon und stiftete Unruhe, indem er uns spätestens ab Mittag als Versager und Heulsusen beschimpfte; dem erzählten wir natürlich nichts von unseren Umzugsplänen. Wir wurden ihn nicht los und sagten: Mögest du ewig leben, du!
Tass wählte eine andere Strophe, sang: Da nahmen wir Hacke und Spaten / und gruben ihm morgens ein Grab. / Und die ihn am liebsten hatten, / die senkten ihn stille hinab.10 Aber: brauchten wir nicht eigene Lieder?
Merkwürdiges ging vor mit den Dingen, die wir liebten: Die vielgerühmte Qualität des Sterni ließ nach, eine andere, völlig unbekannte Wirkung hielt mit jedem Schluck in uns Einzug – hatte sich die Zusammensetzung geändert, war es stärker geworden oder gar schädlich für unsere Körper? Unseren Geist und unsere Seelen? Allerdings: dem Grauen schien es ähnlich zu gehen, und der trank weiterhin seine Burgunderplörre. Und eines Tages, da saß Nase morgens als Erster im Oktagon und hatte tatsächlich ein Stier-Pils vom Netto in der Hand – schon halb geleert! – und wie sich herausstellte: eine Tüte voll mit dem Zeugs stand zu seinen Füßen, und grinste uns höhnisch-siegesgewiss an. Tass bückte sich, nahm eine Flasche, öffnete diese mit dem Feuerzeug; seine Hände zitterten, dann trank er und schaute uns, nachdem er die Flasche wieder abgesetzt hatte, verwundert an: Schmeckt! Wir sahen die Schuld in seinen Augen, gossen nun umso erbarmungsloser das Sterni in uns hinein und wechselten kein Wort miteinander, sogar der Dicke im Rollstuhl schwieg.
Bis die Dämmerung einbrach, eine leichte Brise aufkam und plötzlich: ein süßlicher, ein fremder Geruch von der Platzmitte, sodass Knaller witternd seinen Kopf hob und der Graue schimpfte: Was is’n jetzt schon wieder los?
Ein vielbeiniges Knäuel wankte in unsere Richtung: ein Pferd, das von drei Männern gestützt oder getragen wurde. Advokat erkannte messerscharf: Oha, Alarich, Konstantin und El Cid! Und wir anderen: Die, die immer am Lidl abhängen? – Nee, das sind alles gute Reiter!
Wir hatten Zweifel und zeigten ihm einen Vogel.
Macht mal Platz, ihr Maden!, riefen die drei Männer im Chor, als der Trupp am Oktagon angelangt war. Wir sprangen auf, die Gigi und Tass schoben hastig das Fahrrad des Grauen beiseite, lehnten es gegen die Eiche, die uns im Herbst mit ihren Früchten bewarf. Das Pferd wurde auf die freie Bank gehievt, dann rannten die drei Männer davon, Richtung Nordosten zur Rob(e)son-Straße. Knaller winselte und verkroch sich – so weit weg, wie das Oktagon es zuließ – unter eine Bank; das Pferd schaute den Hund kritisch an. Wir hielten natürlich zu Knaller und sagten: Ruhig, is ja gut!, aber er wollte seinen Platz nicht verlassen. Auch das Pferd machte keinen guten Eindruck, es lag wie waidwund auf der Bank, sah verwirrt und sehr durstig aus, daher reichten wir ihm ein Sterni beziehungsweise versuchten es, denn mit seinen Hufen konnte es die Flasche unmöglich festhalten; sie fiel zu Boden und zersprang, was zur Folge hatte, dass es noch verwirrter dreinschaute und wir die Scherben mit unseren Füßen zusammenschoben. Da stand der Graue auf, riss Tass das Sterni aus der Hand und trat vor: Das Pferd zögerte einen Moment, dann verdrehte es gekonnt seinen Kopf, reckte ihn leicht in die Höhe und öffnete das Maul, in das der Graue anschließend das Sterni schüttete, bis die Flasche leer war; er ließ sie entkräftet fallen.
Nun … Sternburg Export schien eine wundersame Wirkung auf das Pferd auszuüben, denn kurz darauf setzte es sich aufrecht hin. Und wir konnten erkennen: auf seinem Rücken hatte es zwei Flügel, die in Anbetracht des gewaltigen Körpers lächerlich klein waren. Trotzdem musste ihnen eine gleichgewichtsfördernde Funktion innewohnen: das Pferd erhob sich nämlich von der Bank, mühsam, und stellte sich – tatsächlich! – auf die Hinterbeine. Dann sprach es:

[Ω]

Brüder und Schwestern, Schwestern und Brüder, hört mich an! Mir ist gegeben das Recht, mich einzumischen und anzumahnen und vorzupreschen. So frage ich: Brauchen wir tatsächlich nur den einen, den inneren Ort? Sehnen wir uns nicht vielmehr nach dem Platz, den die Welt oder wer auch immer für uns allein hergerichtet hat? Der irgendwo sein muss. Nach dem Safe Space: wehrbauernhofartig, aber unbewaffnet. Nach einem Flecken Erde, der Scholle Land, jenen sechs, vielleicht acht Bänken in einem Park, der zugegebenermaßen als Platz bezeichnet wird und mittlerweile so runtergekommen ist, dass die Vermutung naheliegt, dies geschehe absichtlich – Veränderung, da sowieso dem Untergang geweiht: Komm, Wohneigentum! Zeigt euch, Gewerbeflächen!11 Aber hier schläft die Möglichkeit, den inneren Ort zu vergessen, den wir mit uns herumschleppen und nicht loswerden bis zum letzten Erdentage, sooft wir’s auch versuchen – wie doll wir’s auch wollen. Ich sehe bei euch, meine Brüder und Schwestern, meine Schwestern und Brüder, ein Banner flattern, ein geheimes, unsichtbares, auf dem sehr groß und sehr leserlich geschrieben steht: Wer, wenn nicht wir, ist der Arnimplatz? Virtus! – obwohl die alten Römer im alten Rom, o scriptio continua!, angeblich keine Satzzeichen benutzten. Bedenkt, was früher einmal war und welche Aufgaben euch gegeben, euch genommen wurden: Ihr standet auf Gerüsten, die ihr selbst gebaut, vor Wänden, die ihr selbst gestrichen, verlegtet Teer, den ihr selbst gekocht, verkauftet Fleisch, das ihr selbst zerhauen hattet oder saßet schon immer auf dem Arnimplatz und nahmt dies sehr ernst. O Schwestern und Brüder, Brüder und Schwestern, alles geht an der Leergutfrage zugrunde; übrigens nicht nur hier. Aber verdammt, ich sage euch: Wer einen anderen oder eine andere, tröstet, ist Christi Mund. Wenn ihr nicht Sparta oder die Prätorianergarde oder die Don-Bosco-Schwestern sein wollt, so seid wenigstens das Salz der Erde. Lebt in der Fläche! Haltet aus, haltet stand, denn die Letzten werden die Ersten sein, und die Ersten eventuell die Letzten, mal sehen. Und …

7

Ein mächtiger Rülpser entwich dem Pferdemaul – vermutlich das Sterni – und unterbrach jäh die Rede. Dann plumpste es zurück auf die Bank, die erstaunlicherweise dem Aufprall standhielt, und schien eine Antwort zu erwarten, die von Advokat kam:
Das, liebes Pferdchen, stell’ ich Ihnen anheim!
LOL!, sagte Knaller, der aus seinem Versteck gekommen war und der offensichtlich sprechen konnte.
Jawoll!, rief Tass, und wir schauten den Hund an. Der hechelte nur, war wieder in Schweigen verfallen, so wie wir auch. Aber alle zusammen dachten wir, bis auf den Dicken im Rollstuhl und vermutlich Advokat: Was weißt du schon, Pferdchen! Bei uns flattert kein Banner, und wir machen auch kein Gewese drum. Wir werden verschwinden, nichts wird hier von uns übrig bleiben, denn wir haben keine Bänke aufgestellt oder sie wenigstens gepflegt, gewartet, zum Beispiel alle drei Jahre schön grün gestrichen. Doch vielleicht haben wir durch unser Draufsitzen etwas geschaffen.
Und außerdem sind wir an der frischen Luft!, rief die Gigi und erhob sich von ihrer Bank: Sie trat auf das Pferd mit den kleinen Flügeln zu, streckte ihren rechten Arm zur Seite, der Pferdekopf folgte der Bewegung, und formte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis; und das Pferd: es blickte hinein ins Loch, voller Erschrecken, voller Ahnung, aber interessiert. Da kicherte die Gigi und rief: Ha, hast reingeschaut!, und haute dem Pferd auf die Nüstern, dabei hätte es ein Schlag auf die Flanke auch getan.
Die Gigi kicherte weiter, und wir: wir begannen ebenfalls zu kichern, konnten nicht anders:
Wir kicherten.
Prusteten los.
Und kicherten.
Und kicherten.
Bis der Dicke im Rollstuhl plötzlich brüllte: Schlag ihm ins Gesicht, in die Augen, in die Augen!12
Wir schauten ihn entsetzt an:
Halt’s Maul! Du hast das Spiel nicht verstanden.
Dann schickten wir das Pferdchen zur Strafe an den Wegesrand, an unsere offene Flanke: Verloren!
Es gibt Regeln im Oktagon, eherner als Eure Gesetze.

 

 

Anmerkungen

1: Dem allgemeinen Fortschritt der Menschheit stehen die Probleme auf der Zeichenebene entgegen: Paul-Robeson-Straße (früher Stolpische Straße), sprich jedoch: [pɔːl]-[ˈɹoʊ̯bsn̩]-[ˈʃtʁaːsə]. 2: Der Frühling 1992 in einer Kleinstadt Ostelbiens: Tass und seine Freunde entdecken, wie so viele andere zu jener Zeit zwischen Oder und Elbe, die Alben Böse Menschen – Böse Lieder und Onkelz wie wir … für sich. Sie stammen von den Böhsen Onkelz, einer Rockband aus Frankfurt am Main, die zur Freude von Tass und seinen Freunden als politisch höchst umstritten gilt. Dass die Alben – jeweils von einem gewissen Ron auf Neunzig-Minuten-Chromdioxid-Kassetten von BASF überspielt – bereits sieben beziehungsweise fünf Jahre alt sind, macht nichts: sie werden begeistert aufgenommen wie lang ersehnte Neuerscheinungen, nur für sie komponiert, und bereichern ihr Leben nachhaltig. Ganz besonders angetan haben es ihnen die Songs „Stunde des Siegers“, „Das Signum des Verrats“, „Onkelz wie wir“ und natürlich „Bomberpilot“. Wann und wo immer es geht, stimmen sie eines dieser Lieder an, trällern, grölen, tirilieren, in den Pausen auf dem Beton des Schulhofs der ehemaligen Polytechnischen Oberschule (Typ „Cottbus 1977“), in den Gassen der Stadt, zwischen den Regalen des neuen Supermarkts, sodass die Alten ihre Köpfe schütteln und die Hunde zu bellen beginnen. Sie sind unheimlich textsicher; von „Bomberpilot“ jedoch, da kann Tass nur den Refrain. 3: Tass stimmt natürlich die Fassung von 1925 an: Es geht um Fritz Weineck und dessen gewaltsamen Tod in Halle (Saale) und nicht um Karl Ulbach und dessen gewaltsamen Tod in Frankreich – fünf Strophen insgesamt, Tass kann sie alle. 4: Ja! 5: Warum denn nicht? 6: Die Bronzebettina und der Bronzeachim, dem Hirn des Bronzespezialisten Michael Klein irgendwann im Jahre neunzehnhundert-sechsundneunzig oder -siebenundneunzig in Neuenhagen bei Berlin entsprungen und von diesem überlebensgroß in Bronze materialisiert. 7: Und welche ist Deine Lieblings-Paul-Celan-Zeile, genauer: Vers, den Du mitunter durch Auslassungen verstümmelst und zum Besten gibst? 8: Ihr da unten, im Warschau-Berliner Urstromtal, wie ertragt Ihr die ständige Bedrohung durch die Barnim-Grundmoränenplatte auf der einen und die Teltow-Grundmoränenplatte auf der anderen Seite? – Verlasst die Niederung, verkauft Eure Wohnungen in Mitte oder Schöneberg! 9: Am 31. Juli 2023 listete Google 8.686 Rezensionen zu den „Schönhauser Allee Arcaden“, Gesamtbewertung: 4,0 Sterne von fünf möglichen. Eine „Gaby Ihle“ schreibt zum Beispiel: „Es ist ein optisch sehr schönes Einkfszentrum mit Geschäften in vielen verschiedenen Bereichen und hat ein eigenes Parkhaus. Den einen Stern Abzug gab es, weil das Parkhaus ab der ersten Minute zu bezahlen ist. Ansonsten sehr empfehlenswert.“ (Bewertung: vier Sterne) Dagegen meint „seba mil“: „Mittlerweile 40% Leerstand...liegt vermutlich an nem gierigen Betreiber, der die Ladenmieten nicht der Realität anpassen möchte. Peinliche Location mittlerweile“ (Bewertung: ein Stern). 10: Vgl. Anm. 3. Es bewahrheitet sich die Textsicherheit des Tass. 11: Hier scheint dem Pferd die Phantasie durchzugehen, für solche Pläne gibt es keinerlei konkrete Anhaltspunkte. 12: Des einen Celan ist des andern Dostojewski; vgl. Anm. 7.