Katherina Braschel

Bäume zählen

Es waren immer sieben. Das weiß ich ganz genau. 

Obwohl ich den einen zuerst immer vergessen habe. Also, wenn mich jemand gefragt hat. Aber es hat ohnehin nicht so oft jemand gefragt, wü vü Baama schdengan eigndlich bei eich im Goartn. Aber schließlich stand der, den ich immer vergessen habe, auch nicht dort, wo die anderen Bäume standen. Ned in da Baama-Reih. Und abgesehen davon war der sowieso komisch. Der war einfach irgendwie ein bisschen falsch. Und die Rinde war auch falsch. Die hat sich immer in Streifen vom Rest-Baum abgelöst. Und die Streifen sind dann überall herumgelegen. Und waren komisch. Und die Blätter waren auch komisch. Und ich weiß nicht mehr, warum, aber sie waren komisch. 

Aber das Komischste an dem Baum war das Obst. Weil ich noch nie verstanden habe, wie das ein Obst sein soll, wenn man es nicht einfach so essen kann. Weil des mocht doch a Obst zu am Obst, habe ich mir immer gedacht, dass ma´s afoch so essn ko. Vom Baum herunter eben. Oder von mir aus von den Büschen oder den Sträuchern herunter oder vom Boden. Aber bei dem Baum hat man das Obst eben vorher kochen müssen. Voi gschummlt, habe ich mir immer gedacht. A gschummlta Schumml-Obstbaam. Der Komische. Den habe ich noch nie gemocht. Die Scheiß-Quitte. 

 

Aber das Kompott war gut. Das hat die Oma gemacht und hinterher, nachdem es umgedreht auf den karierten Geschirrtüchern in der Küche der Oma lange genug gewartet hat, habe ich der Oma immer geholfen, die Einweckgläser in den Keller zu tragen. Muschdes vun da Kuuchl nunna in da Kella droon und gib Owwacht uff da Stiegn, hat mich die Oma immer ermahnt. Und jedes Mal hat sie dasselbe erzählt. Dahoom hemma dr´Dunschd und die Beckmes imma im Baroodi-Zimma ghatt. Oons newam andra sin sie gschdan und die Moddr hat druff gschaudt, dass mir Kinna ko Unardnung macha. Awa dahoom woar halt alles andrscht, do hemmrs guud ghatt. 

Und die Einweckgläser sind dann dort gestanden im Keller, jedes säuberlich in der leicht schrägen Schrift der Oma mit Inhalt und Erzeugungsdatum bezeichnet und systematisch aufgereiht. Und nach einer Weile hat man sie dann aufmachen dürfen. Immer eines nach dem anderen, nie mehrere gleichzeitig und jedes immer mit Grund. Weil i grod sooo gern a Kompott hätt war kein Grund. Entweder es hat zum Essen gepasst, dass die Oma gemacht hat oder es war ein bestimmter Anlass da. Weil mir missa Owwacht gewwa, dass ganung iwwrich bleiwwa, far iwwa dr´Windr odda selt a Nod kumma. Hat die Oma immer gesagt. Und ich habe mir jedes Mal gedacht, wos soidsn für an Notfoi gebm, do komma jo sunst eh einkaufn geh

Aber die Mama hat gesagt, dass das wegen dem Krieg ist, weil es damals nicht so viel zu essen gegeben hat und besonders im Winter nicht, als die Oma mit den anderen mit den Pferden und mit den Wägen unterwegs war und dass sie da sehr hungrig war, die Oma, und dass sie deshalb immer ganz viel als Vorrat im Keller haben will, damit sie nicht wieder so hungrig wird wie damals und ich habe es trotzdem nicht ganz verstanden, aber das war okay. 

Deswegen hat es mir auch nie etwas ausgemacht, wenn der Opa wieder gesagt hat Die erschda dr´Tod, die zweida die Nod, die dritta s´Brod. Awr des varsteehsch du noch net, zum Glick. Weil die Mama mir erklärt hat, dass wir sowieso schon die Fünften oder so sind und der Opa das nur sagt, weil das sein Opa, also mein Ururururopa, so oft zu ihm gesagt hat. Weil die es noch ganz schwer hatten, als sie dorthin gezogen sind, wo die Oma und der Opa dann groß geworden sind. Aber dass das noch viel länger her ist als das mit den Pferdewägen im Winter, wo die Oma so hungrig war. 

Und eben wegen dem Hunger von der Oma waren immer Einweckgläser mit Marmelade und Kompott im Keller. 

Die Einweckgläser waren die, bei denen man immer den dummen Zipf abgerissen hat beim Aufmachen. Der von dem roten Gummi. Wenn man den abgerissen hat, dann war man zuerst einmal ein bisschen im Oarsch. Und das, obwohl ich das damals nie so gesagt hätte, weil dieses Wort haben ja nur die Großen verwendet und auch nur dann, wenn sie gedacht haben, ich höre sie nicht. Im Oarsch sein, am Oarsch gehn, an Oarsch hom.  

Mit dem abgerissenen Gummizipf hat man dann zur Oma oder zur Mama gehen müssen und die haben dann vielleicht gesagt Geh, Kind! und geseufzt und haben den Gummi mit der großen Küchenschere aufgeschnitten. Und dann habe ich jedes Mal die Muskeln um die Augen zusammengezogen um ja die Augen nicht zu verdrehen und habe mir gedacht Jo wos soid i´dn mochn, is jo ka Wunda, dass ma bei dera Scheiß-Quittn jetz ah nu dea Scheiß-Gummi reißt. Und dann habe ich das Kompott gegessen. In den weißen Schüsseln von der Oma, mit dem Goldrand. Und es war gut. 

 

Wen ich dafür immer mitgezählt habe, war die Haselnuss. Und ich habe jedes Mal, wenn jemand gesagt hat, dass des jo goa ka richtiga Baam is, wei des a Strauch is und ka Baam, wei dea goa kaan richtign Stomm hod und i doch schaun soid, wia dea obahängt und ned in die Heechn wochst, einen ausgewachsenen Wutanfall bekommen. An Gitzi

Wei des is doch logisch habe ich mir immer gedacht – do kumman de Hoslnüsse hea und wo kumman Nüsse hea?! Von am Baam! Oiso! 

Erdnüsse hatten damals noch nicht so viel Platz in meinen Nussüberlegungen. Die waren aus der Dose und eine schöne Überraschung, wenn der Opa sie vom Einkaufen mitgebracht hat. Die Mama hat nur die in der Schale gekauft, bei denen man sich die Schalenränder unter die Fingernägel gestochen hat, beim Aufmachen. Bei den ondan is viel zu viel Salz dran, da kriegst sonst einen Durscht in der Nacht und ich muss aufstehen. Hat die Mama immer gesagt.  

Neben dem Haselnussbaum ist der Birnenbaum gestanden. Des klaane Zniachtl. Der war immer ein bisschen das Trauerspiel unter den Bäumen. A richtige Kraxn. Bei dem hätte ich es wirklich verstanden, wenn jemand gesagt hätte, dass des ka richtiga Baam is. Sundan vielleicht mea so a Ost, dea wos aus da Erdn kummt oda so. Der Birnenbaum-Stamm war gefleckt und die Blätter hatten immer Löcher. Oder ganz kleine Tierchen auf ihnen. Oder beides. 

Ich glaube, von den Birnen hat nie jemand eine gegessen. Der war immer schon ein bisschen krank, der Baum. Ein bisschen wie der Opa eben. 

 

Aber vielleicht hat er auch nur deshalb so mager ausgeschaut, weil der nächste Baum in der Reihe der Größte war. In meinen Augen war der damals hundert Meter hoch. Mindestens. Und sicher fünfzig breit. Jetzt denke ich mir, es wean vielleichd weniga gwesn sei.  

Der Größte, das war der Weichselbaum.  

Der das meiste und beste Obst getragen hat. Zu dem der Opa jedes Jahr wieder gesagt hat, dea drood guud des Joahr, weit mehr als varm´Joahr, moohn ich. Bis ganz in die Krone hinauf, wo ich es den Vögeln dann vergönnt habe, dass sie diese Weichseln bekommen und ich nicht. Von dem Weichselbaum war sogar einmal ein Foto im Franztaler Heimatbrief, darauf war der Opa ganz besonders stolz. Und ich auch, weil es ja auch ein bisschen mein Baum war, weil er ja auch in meinem Garten gestanden ist und ich mich immer gemeinsam mit dem Opa um ihn gekümmert habe. 

Das war der Baum, zu dem man im Sommer nicht barfuß hat hingehen dürfen, weil man sonst ganz rote Fußsohlen bekommen hat. Und wenn man es doch nicht lassen konnte, musste man die Füße am eiskalten Pumpbrunnen waschen. Die Oma hat gepumpt und geschnauft und über das Quietschen der Pumpe drüber gerufen, do siegsches, Kind, des kummd davu, wemmr bloosfiießich gehd. 

Und manchmal ist dann die Mama gekommen und hat zur Oma gesagt, lass, Mutti, ich droo sie nuff und wasch ihr die Fiieß in da Bodtwann und hat mich als Postpaket durch das Treppenhaus getragen und mich in der Badewanne abgestellt. Dort hat sie dann gesagt, so, jetzt musst du dir des aber selber abwaschn und zwar mit Bürschdln, bis auch das kleine Zeechal nicht mehr rot is. Und ich habe gebürstet und gewusst, dass im Grunde alle wissen, dass sich sowieso jeden Sommer wieder eine Grundröte über meine Fußsohlen zieht, die bis zum Herbst nicht verschwindet. Und habe an das Bäumeklettern gedacht. 

Nur nicht im Weichselbaum. Bei dem haben alle Äste so hoch angefangen, dass man keine Chance hatte, da hinauf zu klettern. Also ich nicht. Der Opa hätte hinaufklettern können, weil der Opa eigentlich alles konnte, was es im Garten zum Können gab, aber der durfte nicht. Wegen dem Kranksein und weil der Opa ja auch schon ein bisschen alt war. 

 

Mein Kletterbaum war der Kirschenbaum daneben, neben dem großen Weichselbaum. Der, in dem ich immer ein Baumhaus wollte und nie eines bekommen habe. Weil´a des ned aushoidtn darat, haben alle gesagt. Das habe ich dann verstanden, weil ich ein sehr vernünftiges Kind war. Außerdem kam schließlich die Kirschenernte doch auch noch vor dem Baumhaus. Aber im Nachhinein denke ich mir a Brettl warad scho drin gwesn. Das habe ich mir schließlich dann auch gewünscht. Aber auch nicht bekommen. Und weil ich eben damals schon so furchtbar vernünftig war, habe ich das dann ebenfalls verstanden, als mir alle gesagt haben, dass des dem Baam weh duat mit de Nägl und so. Nur heute denke ich mir geh bitte.  

Aber so ist eben immer die Oma unten neben dem Kirschenbaum gestanden und hat Angst gehabt, während ich geklettert bin. In ihrem Hauskleid zu dem sie nur Schorz gesagt hat. Und hat gemurmelt Mariandjosep, wo willschd denn noch hi? Kumm runna, Kind!  

Und ich glaube, manchmal hat sie mir Gummibärli versprochen, wenn ich wieder hinunterklettere. Aber ich wollte eben immer nu a bissi weidta auffi.  

Und dann bin ich eines Tages ganz besonders hoch hinaufgeklettert und bin hinuntergefallen und habe mir den Arm gebrochen und die Oma hat in ihr Sackdiechl geweint, das sie immer in ihrer Schorz eingesteckt gehabt hat, weil im Sommer kein Ärmel zum Hineinstecken da war, und dann hatte ich einen Gips, zwei Wochen lang, und alle meine Freund_innen und Verwandten haben darauf unterschrieben, auch der Opa und die Oma.  

So habe ich mir das immer ausgedacht. Weil es eigentlich gar nicht stimmt. Weil ich mir noch nie etwas gebrochen habe. Einen Gips habe ich mir aber immer gewünscht, am Arm oder am Bein. Nur der Opa hat jedes Mal gesagt, a Gips brauchsch nur wennd´da wirglich weh gadon hasch, des is nix zum Spiela far die Kinnar. Do kannsch dann nimma gehn und hupsa. Und die Mama hat gesagt, dass der Opa nicht so gerne krank spielt, wegen dem Krieg und weil er auch in Wirklichkeit ein bisschen krank ist. Aber das habe ich ja gewusst. Nur manchmal beim Spielen momentan vergessen. Und das mit dem Krieg habe ich auch gewusst, weil die Mama es mir ja schon manchmal ein bisschen erklärt hat und weil ich einmal beim Schmuckanschauen in der Schmuckkiste von der Oma in einem Geheimfach, wo man zuerst den Samtboden von der Kiste an einer Schlaufe hat herausnehmen müssen, ein paar rote Knöpfe gefunden habe. Die hatten so ein schwarzes eckiges Pluszeichen drauf, von dem ich gewusst habe, dass das ein ganz schlimmes Zeichen ist, von früher. Und weil mir die Knöpfe Angst gemacht haben und ich nicht verstanden habe, warum der Opa so ein schlimmes Zeichen hat von dem Krieg, wo er doch auch von seinem Zuhause hat weggehen müssen, habe ich sie damals ganz schnell wieder in das Geheimfach zurückgelegt. Und habe niemandem etwas gesagt.  

 

Neben dem Kirschenbaum war noch ein Kirschenbaum. Jedenfalls glaube ich das. Das hat mich immer schon verwirrt, das mit diesen zwei Bäumen. Das ist das Gleiche wie bei Weichseln und Schwarzkirschen. Ob das eigentlich dasselbe Obst ist, weiß ich auch nicht. Bis jetzt nicht. Aber ich denke mir, vielleicht woa ah aana von de Kirschnbaam a Schwoazkiarschn-Baam und da ondre hoid so a Standad-Normal-Kirschnbaam.  

Ich bin mir sicher, dass der Opa es mir jedes Mal erklärt hat, wenn er mit mir im Frühling schauen gegangen ist, ob sie schon bliehn, die Kerscha- und die Weichslbeem. Oder ob schon die kleinen grünen Kirschendinger dranhängen an den Ästen. Ich bin mir auch sicher, dass er es mir jedes Mal im Sommer erklärt hat, wenn wir meine Hängematte zwischen dem Kletter-Kirschenbaum und diesem Vielleicht-Kirschenbaum aufgehängt haben. Und im Winter beim Iglu-Bauen und im Herbst beim Laubrechen und Äpfel-Einsammeln. 

 

  

Der letzte der sieben Bäume war nämlich der Apfelbaum. Der war irgendwie fad. 

Nicht klein, nicht groß, nicht seltsam, nicht besonders. Und die Äpfel waren entweder hart und sauer oder angeschlagen und faulig. Vielleicht habe ich ihn deshalb nie so wirklich spannend gefunden. Der war eben einfach da. 

Aber zählen lernen hat er mir trotzdem geholfen. Das muss man ihm lassen. Und der Scheiß-Quitte auch. Sonst hätte ich ewig nur bis sechs statt bis sieben zählen können. 

Weil der Opa jeden Tag in der Früh mit mir die Bäume gezählt hat. Ob sie eh noch alle da sind. 

Weil des muschd kontrolliera, hat er gesagt. Des hemma Dahoom schunn imma gmachd, hat die Oma gesagt. Des is wichdig, hat er gesagt. Weil wenn´dt a Goarta hast, hast imma was far Essa. 

Und ich habe gedacht, der Opa war auch immer hungrig, so wie die Oma, weil sie beide mit den Pferden und den Wägen unterwegs waren. Und die Mama hat genickt, als ich ihr das erzählt habe und hat gesagt, jo, weißt – des stimmt schon, dass da Opa auch hungrig war, aber der war ned bei dem Pferdetreck dabei, weil der war da scho im Krieg, der ist eingezogen worden als Soldat, so nennt ma das, wenn ma in den Krieg müssen hat, damals. Und außerdem sagt der Opa das, weil´a so stolz ist auf seine Bäume und den Garten und weil´a so stolz ist, dass´a so a gute Helferin mit dir hat, weil du so brav immer die Bäume zählst. Und ich habe an die Knöpfe mit dem schlimmen Zeichen gedacht und war verwirrt, weil sonst immer alle von der Vertreibung geredet haben und habe die Mama gefragt, ob dann der Opa die Oma vertrieben hat, wenn er im Krieg war und sie nicht. Und die Mama hat geseufzt, aber irgendwie ganz anders als zum Beispiel beim Gummizipf-Abreißen und hat gesagt, Nein, das hat der Opa nicht, das ist ein bissi kompliziert, weißt. Der Opa hat die Oma erst viel später wiedergefunden, da waren sie dann schon in Österreich, nach dem Krieg. Aber da erzähl ich dir ein ander´ Mal weiter drüber, das ist wirklich ein bissi kompliziert.  

 

Und es ist sich gerade noch gut ausgegangen, dass ich es ganz ohne Fehler bis Sieben und ein bisschen darüber hinaus geschafft habe, als der Opa dann aufhören hat müssen mit dem Mitzählen. Das war der einzige Tag, an dem niemand die Bäume gezählt hat. Weil die Oma zur Wohnung von der Mama und mir heraufgekommen ist in der Früh und ganz leise gesagt hat Ich gloob, dr´Vati is gstarb. 

  

Und dieser Tag war eine große Ausnahme, weil wir normalerweise sogar an Weihnachten die Bäume gezählt haben und auch, wenn es geregnet hat. Da kannten wir gar nichts, der Opa und ich. Aber ich habe nach dem großen Ausnahme-Tag dann einfach übernommen. Und habe selbst gezählt. Jeden Tag. 

Wei des muas ma kontrolliern. Des homma imma scho so gmocht. Des is wichtig. 

Sog i.