Jasmin Merkel

Mein Name ist Maike Kleeberg

Mein Name ist Maike Kleeberg.

Liebe Zuhörerinnen, liebe Zuhörende, liebe Zuhörer,

die meisten Reden beginnen mit einem klug gewählten Zitat, das beispielsweise von der

schweißtreibenden Unannehmlichkeit handelt, genau in einem solchen Moment vor einem

Publikum wie diesem hier zu stehen und eine Rede zu halten. Oder sie beginnen mit einer

poetischen Enumeration all jener vollkommen unentbehrlichen Weisheiten und

Erkenntnisse, die das werte Publikum dringend in seinem Leben braucht und nach dem

Genuss ebendieser Rede in seinem Leben angeblich nie wieder vergessen wird. Oder sie

beginnen mit einer persönlichen Anekdote, kurz und prägnant formuliert, die mit einer

Pointe schließt, die - folgt man den gängigen Ratgebern - von knackiger Beschaffenheit zu

sein hat. Im besten Fall ist darauf aus dem Saal ein wohlwollendes, gedämpftes Lachen zu

vernehmen, das werte Publikum kann sofort an das persönliche Erlebnis des

schweißtriefenden Referierenden anschließen, und schon ist der erste, nervenaufreibende

Absatz der transpirationsfördernden Rede geschafft.

So beginnt auch meine Rede nun endlich mit einer Anekdote. Persönlich, knapp und

prägnant.

Sechs Jahre liegen zwischen der heutigen Rede und dem Abend, von dem meine Anekdote

handelt. Es war ein Abend, wie ihn viele von uns erleben. Genau genommen begann der

Abend bereits um sechzehn Uhr an meiner damaligen Schule mit der feierlichen Übergabe

der Abiturzeugnisse. Auch dabei wurde eine Rede gehalten, ich meine, dass sie mit einem

Zitat begann.

Vor sechs Jahren konnte man in meinem Heimat-Bundesland noch dreizehn Jahre lang zur

Schule gehen und Abitur machen, und an diesem Tag fühlte es sich auch genauso an, als

hätten wir alle dreizehn Jahre lang auf diesen Abend gewartet. Endlich wurden einzelne,

langstielige Rosen und schlichte Urkundenmappen überreicht, liniengeprägter Karton, 250

Gramm pro Quadratmeter, Farbe königsblau. Darin dreizehn Jahre Schulleben auf vier Seiten

gestärktem Papier. Ein warmer Händedruck, ein kurzes Nicken, Abi in der Tasche, wie es so

schön heißt. Im lange zuvor erstandenen Ballkleid -auch der käufliche Erwerb desselben war

einst ein schweißtreibender Prozess gewesen- ging es weiter zum Abiball. Hier wurden noch

ein paar warme Worte mehr gesprochen, Schultern geklopft, Champagnerflöten überreicht.

Der Abend ging weiter, wie ihn sicherlich auch die meisten von uns kennen. Ein Sekt, ein

Eröffnungstanz, ein Sekt, ein Bier, ein zweites Bier, ein drittes Bier, ein Sekt, ein drittes Bier,

ein… na ja, das werte Publikum kann vermutlich bereits an das Erlebnis der Rednerin

anschließen.

Wie die meisten ebenfalls aus eigener Erfahrung wissen, endet der prototypische dieser

Abende einige Stunden später, vielfach in Begleitung von Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit,

Konzentrationsschwäche, Herzrasen und durchaus auch vermehrter Schweißneigung.

Auch mein Abend endete vor sechs Jahren mit stechenden Kopfschmerzen, anhaltender

Appetitlosigkeit, dem vollkommenen Unvermögen, mich zu konzentrieren und stark

vermehrter Schweißneigung. Mein Abend endete außerdem, kurz, knapp und prägnant

formuliert, mit einer offenen Wunde der behaarten Kopfhaut. Einer oberflächlichen fazialen

Weichgewebeverletzung. Mehreren Hämatomen an weiteren, hier nicht näher bezeichneten

Körperregionen. Schürfwunden an Armen, Rücken und am Gesäß. Mit oberflächlichen

Wunden der äußeren Genitalorgane.

Statistisch gesehen kann jede siebte Zuhörerin in Deutschland direkt an dieses persönliche

Erlebnis anschließen.

Statistisch gesehen werden circa zwanzig Vergewaltigungen in Deutschland pro Tag

angezeigt.

Circa fünfunddreißig Prozent der Frauen in Deutschland haben statistisch gesehen seit ihrem

fünfzehnten Lebensjahr mindestens einmal körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt.

Und an jedem dritten Tag wird, statistisch gesehen, eine Frau in Deutschland von ihrem

Partner oder Ex-Partner getötet. Mittwoch. Samstag. Dienstag. Freitag. Montag. Donnerstag.

Sonntag. Und wieder Mittwoch.

Zwischen achtzig und fünfundachtzig Prozent der erfassten Vergewaltigungen, sexuellen

Nötigungen und sexuellen Übergriffe werden statistisch gesehen in Deutschland aufgeklärt.

Dies bezieht sich auf diejenigen Fälle, die zur Anzeige gebracht werden.

Der Anteil Fälle, der nicht zur Anzeige gebracht wird, der in keiner Statistik auftaucht und

niemals offiziell aufgeklärt wird, liegt laut Dunkelfeldstudien, vorliegend für drei

Bundesländer und in einer Untersuchung aus dem Bundesministerium für Familie, Senioren,

Frauen und Jugend, zwischen zweiundneunzig und neunundneunzig Prozent.

Ich zeigte meinen Fall an.

Ich bin Fall Nummer Hundertzweiundvierzig von zweihundertzweiundsiebzig der Statistik des

Jahres 2014 des Flächenbundeslands, in dem ich aufwuchs und Abitur machte. Fallstatus

vollendet, Opfer weiblich, Nummer hundertsechsunddreißig von zweihundertzweiunddreißig

Opfern dieser Kategorie.

Ich bin die Nebenklägerin des Strafdelikts mit dem gerichtlichen Aktenzeichen 183 KLs

17/14.

Ich bin Patientenakte Nummer 36/2014, Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung

nach DSM-5, Code 309.81.

Ich bin, wie der regionalen Presse und wenigen überregionalen Boulevardmedien zu

entnehmen ist, das Opfer. Klammer auf. Neunzehn. Klammer zu.

Ich bin die Frau, spezifiziert durch wenige unterschiedliche Attribute, meist jung oder 19-

jährig oder missbraucht.

Ich bin Asterisk Name von der Redaktion geändert.

Mein Name ist Maike Kleeberg und ich bin vergewaltigt worden.

Mein Name ist Maike Kleeberg. Ich habe vor sechs Jahren mein Abitur abgelegt und am 24.

Juni 2014 mein Abiturzeugnis erhalten. Elf Stunden und circa fünfundzwanzig Minuten

später wurde ich vergewaltigt. Wie das Leben der meisten meiner ehemaligen

Klassenkameraden teilt sich mein Leben seither in zwei Teile. Jedoch nicht in ein Leben in

der Schule und ein Leben nach der Schule. Es teilt sich in ein Leben vor und ein Leben nach

dieser Nacht.

Das Leben von Hunderten, Tausenden, Zehntausenden, Hunderttausenden, vermutlich von

Millionen Frauen teilt sich in ein solches Davor und Danach.

In einem gut gefüllten mittelgroßen Veranstaltungssaal, etwa zur feierlichen Übergabe von

Abiturzeugnissen, passt ein durchschnittlich großer Abiturjahrgang von etwa fünfundsiebzig

Abiturienten, die jeweils bis zu drei Begleitpersonen zur Feier mitbringen können. Teile des

Lehrerkollegiums sind ebenfalls anwesend, und so sitzen ungefähr dreihundert Zuhörende

im Saal. Bei einem angenommenen ausgeglichenen Geschlechterverhältnis sind

hundertfünfzig von ihnen weiblich.

Mutmaßlich zehn von ihnen können direkt an meine persönliche Erzählung anschließen.

Und obwohl so viele von uns diese Erfahrung teilen, sprechen wir sie kaum aus. Die meisten

von uns nie.

Statistisch gesehen ist mein Fall, Fall Hundertzweiundvierzig der Jahresstatistik 2014,

gerichtliches Aktenzeichen 183 KLs 17/14, typisch.

Wie in meinem Fall ist der Täter in den meisten Fällen dem Opfer Klammer-auf-NeunzehnKlammer-zu bekannt. Besonders oft ist der eigene Partner der Täter. Die Liebe, die ein Leben

lang halten soll.

In anderen Fällen ist es vielleicht der Chef. Der nette Kollege von der Dienstreise zur

Tochterfiliale der Firma. Oder auch der Teamkollege, der im Sechser-Büro gerade mit dem

Rücken zu uns sitzt und das Ende der letzten Firmenfeier verdrängt hat.

Insofern kann nicht nur die statistisch besehene siebte Zuhörerin an meine Anekdote

anknüpfen, sondern auch ein statistisch unbekannter Prozentsatz der anwesenden Zuhörer.

Und auch, wenn wir die Täter nicht persönlich kennen, kennen die meisten von uns sie doch

irgendwie.

Es ist der Mann, mit dem sie sich auf einer kleinen Party bei Freunden „eigentlich ganz nett“

unterhalten hat, der zwei Tage später unaufgefordert Dick Pics schickt. Und ein „Fick dich

halt selbst“, als sie nicht reagiert.

Es ist das Blind Date, das die Absage einfach nicht kapiert, ihr ständig weiter Nachrichten

schickt und irgendwann nur noch diese: „Ich stech dich ab, du Hure!!!“

Es ist der Typ, der sie anlacht, als sie an der Straßenecke auf eine Freundin wartet und fragt:

„Gehst du mit mir einen trinken?“. Der aufhört zu lachen, als sie den Kopf schüttelt und ihr

ins Gesicht spuckt, „Scheiß Schlampe“.

Es sind auch die Freunde, die dann sagen: „Wenigstens ist nichts Schlimmeres passiert“.

Statistisch gesehen greifen neunundneunzig Prozent der Männer, die sich breitbeinig

gegenüber von ihr setzen, nach ihrem Handy. Die Macht hat jedoch noch immer der eine,

der vor über sechs Monaten nicht sein Handy, sondern seinen Schwanz rausholte und sie

erwartungsvoll angrinste.

Übrig bleiben nach solchen Begegnungen Hilflosigkeit, Angst, Wut, Panik, Trauer,

Verzweiflung, Ekel, Ohnmacht. Verkrampfen und Herzrasen. Eine vermehrte

Schweißneigung. Eine kaum zu überwindende Scham.

Mein Name ist Maike Kleeberg. An vielen der zweitausendeinhundertachtundneunzig Tage

der vergangenen sechs Jahre konnte ich mich kaum an meinen Namen erinnern, obwohl ich

ihn so oft zu Protokoll gegeben habe. In der Notaufnahme der Klinik. Bei der

Anzeigenerstattung. Zur Zeugenaussage des Gerichtsverfahrens. Zur Opferberatung. Zur

ersten Therapiesitzung. An vielen Tagen habe ich gewünscht, mein Name wäre ein anderer.

Habe mir so sehr gewünscht, dass auch ich eine andere wäre.

Heute wünsche ich, heute fordere ich, dass die Gesellschaft eine andere wird.

Mein Name ist Maike Kleeberg und ich fordere das Recht auf Leben und körperliche

Unversehrtheit.

Ich fordere eine Gesellschaft, deren Kinder noch vor dem Alphabet und dem einfachen Ein

Mal Eins Respekt vor sich und anderen lernen. Damit ihnen nicht später beigebracht werden

muss, dass niemand das Eigentum eines anderen ist.

Ich fordere das Recht von Frauen und Kindern auf Schutz vor Gewalt und damit das Recht

auf einen Platz in einem sicheren, dauerhaft finanzierten Frauenhaus. Damit sie nicht in

extremen Notlagen von überfüllten Hilfseinrichtungen abgelehnt werden und unter

Lebensgefahr in gewalttätige Partnerschaften zurückkehren müssen.

Ich fordere, dass patriarchalische Denkmuster im Strafrecht aufgebrochen und betroffene

Gesetze geändert werden. Damit Täter nicht Gefühle der Verzweiflung und inneren

Ausweglosigkeit als Auslöser für ihre Taten anführen können, wenn das ermordete Opfer

sich von ihnen getrennt hatte, als hätte sie eine Mitschuld daran.

Ich fordere, dass Familientragödien und Eifersuchtsdramen aus den Medien, dem

öffentlichen Diskurs und auch aus dem privaten Gespräch verschwinden. Damit Femizide

nicht weiterhin bagatellisiert, entschuldigt und in die private Sphäre abgeschoben werden

können, sondern als das strukturelle, gesellschaftliche Problem betrachtet und besprochen

werden, das sie darstellen.

Ich fordere, dass Femizide aus den Medien, dem öffentlichen Diskurs und dem privaten

Gespräch verschwinden, weil wir es schaffen, eine Gesellschaft zu werden, in der das FrauSein nicht das größte Lebensrisiko einer Frau ist.

Mein Name ist Maike Kleeberg und ich fordere das Recht auf Leben.