Jana Krüger
weiterweg
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Massen, Haufen, Gemenge, Bündel, Kolonnen, Aufläufe, Gewimmel, Armeen,
Banden, Auflösungen, Paniken, Sitzreihen, Prozessionen, Zusammenstöße,
Massaker, Leichenberge, Streuungen, ein Übervolles, ein Überlaufen von Körpern,
stets zugleich in kompakten Massen und in stäubendem Umherirren, stets
zusammengepfercht.
Ich fahre zu dem kleinen Industriehafen südlich der Stadt, der Ort, an dem das Schiff
liegt. Den steilen Berg hinunter, nach rechts abbiegen durch das Tor. Anhalten, aus-
steigen. Links ein kleines Häuschen, weiß in der Mittagshitze. Der alte Platzwart
raucht und nickt mich durch. Jede Bewegung hier zu warm, zu viel und träge über
den Platz an den kaputten Schiffen vorbei. Mittagsstunde, da bist du und spielst mit
den stinkenden Labradormischlingen. Du hebst den Blick, siehst mich an, wie beiläu-
fig –
Das Schiff ist nicht besonders groß, kaum zwanzig Meter. Vorne am Anker schleifen
wir den ganzen Nachmittag die Farbe ab, den orange braunen Rost weg. Irgend-
wann sind wir komplett eingedeckt. Rost mit hellblauer Farbe im Gesicht und auf den
Armen, neue Haut. Die Sonne, das warme Bier ab vier und die Zigaretten, von denen
ich auf dem eh schon schwankenden Schiff noch mehr wanke und dann bis zum frü-
hen Abend weiter schleifen, die immer gleiche Bewegung. Ob das Schiff überhaupt
jemals wieder fahren wird, jetzt, wo es bereits das andere, das größere gibt? Am
Hafen grillen, schweigend sitzen, drüben im Hafen Schiffracks, abgenutzte Teile, der
Atem trocken wie alles hier. Nur das Meer nicht.
Die Organisation hat ein Haus, von dem man den ganzen Hafen von Valletta sehen
kann, mit den großen weißen Yachten und den kleinen Cafés, in denen ab den frü-
hen Morgen Malteser, dunkle Punkte, sitzen, Kaffee und Bier trinken, während vor
ihnen die Putzkräfte, noch dunklere Punkte, anfangen, die Yachten zu reinigen, be-
vor die Sonne hochsteht. Unten im Haus ist die Küche mit der Waschmaschine, im
Keller Vorratsraum mit Unmengen an Bier und oben in der ersten und zweiten Etage
Schlafräume für die Freiwilligen. Meistens ist das Haus – das so massiv gebaut ist,
dass es mir eher wie eine Festung erscheint – leer, nur in der Zeit, in der das Schiff
im Hafen liegt, voll mit Menschen. Sonst nur du und jetzt ich, wir, die sich um die Ar-
beit auf dem Land kümmern, um die Unterkunft, die Versorgung und um mitzuhelfen
bei dem anderen, kleinen Schiff. Oben auf dem Dach kannst du fast das Meer sehen.
Und hinter dem Meer:
Ein Geheimnis behalten, Gespenstern Raum geben.
Der Himmel verläuft von hellblau zu weiß blendend. Tief ziehen Stromleitungen Stri-
che in Schwarz, nähen drei leere Flächen aneinander. Im Truck ist es laut und heiß
und wir reden wenig. Mir fehlen die Straßennamen, nicht auf der Karte, nicht auf den
Wegen lassen sie sich finden. Ich zeichne die Strecke auf der Karte mit dem Kugel-
schreiber nach, obwohl wir irgendwo die falsche Ausfahrt genommen haben. Ver-
dammte Scheiße – Deine wundgebissenen Nägel formen oben dunkle Linien als Ab-
rundungen. Diese Hände bewegen sich strauchelnd mit dem Lenkrad. Ich habe
deine Hände lang nicht gesehen. Die Leichtigkeit, sie bewegen sich automatisch in
weicher Eleganz, beruhigt mich. Wir suchen ein Ersatzteil für die Filtermaschine für
das große Schiff auf kleinen Wegen und in abgelegenen Orten, wenn es keins gibt,
kann die Crew nicht fahren, ich pflück Zitronen und Orangen in Vorgärten und du ver-
ziehst dein Gesicht wie:
Hey, weißt du was? Entfernungen lassen sich schätzen, Entfernungen lassen sich
spüren, auslotsen. Mit dem Daumen über das Augenlid gehalten blinzelnd der Sonne
entgegenstarrend. Und: Es wird immer wieder behauptet, dass manche denken, das
Mittelmeer sei ein Fluss. Und dann noch: Wenn du möchtest, fahren wir links herum.
Wir besorgen Lampen, Seile und Kabel, Dinge, die man auf einem Schiff braucht.
Die Geschäfte sind versteckt in den entlegensten Ecken der Insel. Sie ist ein Ort, der
eigentlich nicht existiert. Es ist unmöglich, den Raum zu begreifen. Jede Abbiegung
scheint in einer neuen Straße zu enden. Verkehrschaos, Menschengemenge, Touris-
tengewimmel, Shoppingstraßen, Hafenpromenade. Es gibt keine Regeln und je mehr
ich versuche, etwas zu ordnen, umso mehr verlier ich den Fokus, lass weiterfahren.
Nachts wach ich nass und nackt neben dir auf. Überall sind Mücken. Andauernd
wach ich auf. Es ist nicht auszuhalten, unterm Laken zu schlafen. Aber ohne geht
auch nicht. Und jedes Kleidungsstück klebt am Körper und stinkt am Morgen. Es gibt
eine Hoffnung, draußen zu bleiben. Es nicht herein zu lassen. Es distanziert betrach-
ten zu können. Nicht wütend werden, neutral eben. Wo immer diese Neutralität in
uns auch sitzt. Ein paar Tage lässt sich diese Hoffnung aufrechterhalten, wenn dann
doch die Toten hereinbrechen. Fehlen noch immer die Worte. Und dann immer wie-
der meine fast trotzige Frage: Was habe ich mit ihnen zu tun? Was gehen mich die
Kamerabilder an? Sonst kommen sie mir auch nicht so nahe, halten Abstand. Ich
versuche zu sagen, kalt ganz kalt. Aber es bringt sowieso nichts. Ich kann sie nicht
einsortieren in die täglich mediale Bilderflut, der Ort widersetzt sich. Wir sind zu nah.
Später sehe ich Kakteen und Bambuspflanzen an Steinmauern. Und Strähnen von
Buchenhaaren wachsen wild an deinen Schenkeln. Dazwischen Flecke von Rost,
Dreck, Blut. Es gibt so viel Raum auf der Insel und trotzdem steht alles gedrängt,
Mauer berührt Mauer, Zaun an Zaun, Oberschenkel an Bauch, dazwischen Ockerfel-
der, auf denen nichts wächst. Meine Arme hell an deinen und ich sage:
Die Insel ist der Ort, von dem aus die Operation möglich gemacht wird. Wir sind ein
Teil eines Systems. Augen Füße Hände führen aus. Anweisungen nicht zu trennen
von Befehlen pausenlos geschrieben, geschrien, brummende Maschinerie, Organis-
mus und wahnwitzige Geschäftigkeit. Die Pause erstarrt vor den Bildern. Das hältst
du nicht aus. Rennen, etwas läuft schneller und schneller, es ist ein gegen, für, wi-
der. Was Sekunden bedeuten. Die Nachrichten von Bord und die Stimme des Head
of Missions, deine Stimme, die kurz bricht und dann weiter, weiter. Welchen Referen-
zen wohin folgen?
Während wir fahren, schwillt dein linkes Schlüsselbein nach außen und südlich da-
von bildet sich ein Teaköl-Feld. Asphalt rollt sich sanft den sonst sandigen Hügel
hinunter, kurz ist es fast still. Nur aus dem Radio tönt „Honey, ya treat me so unkind“,
dein Atem dann, ein Auto und noch eins, die heiße Luft schwer im Inneren der Insel
und getränkt in Benzin. Das Meer ist überall dort, wo das Land aufhört.
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Es gibt Bilder, auf denen schwimmen an die hundert Leichen auf dem Meer. Wir ha-
ben aufgeblasene Rettungswesten an die Leichen gebunden, damit sie die Leichen
bergen können. – Es sah aus wie ein Luftballonfeld.
Sagst du am Morgen, an das Fenster nach Valletta in dieser Sonne und ich.
Sagte ich ein Wort? Der Kehlkopf zugeschnürt, am Rührei nagend den Blick gerichtet
aus dem Fenster vorbei an Menschenköpfen, die wenig sagen. Die darauf warten, an
Bord zu gehen, die darauf warten, auf das Meer zu fahren dort, wo die Boote sinken.
Angst ist eine Strecke, die sich abstecken lässt, durch das Haus an den Punkten vor-
bei, die meine Füße berührten. Manche Dinge, die du siehst, sind wie Geister, kom-
men immer wieder. Marmorierte Bodenfliesen, die die Füße von unten schwarzma-
len. Wie ich sitze – abgehangen, Schneidersitz, nackig im Kleide‚ den Glastisch be-
taste und sonntagmorgens Wörterfetzen noch fast träumend spreche.
Auf den Bildern der Fotografen fehlen Gerüche und die Geräusche, sagst du. Und
wie man sich manche Dinge einfach nicht vorstellen kann, auf und ab und auf den
Booten gibt es verschiedene Ebenen. Nur die oberste Ebene sichtbar, ein Drittel der
Menschen, die schwachen, kranken, armen ohne Sauerstoff unter Deck. Denen dort
ist es doch egal – es ist ihnen egal. Es ist eine Farce, eine Komödie, die vergessen
hat, für wen sie spielt und so schizophren, abgeklärt, belanglos in ihrer kollektiven
Verantwortung und Schuld. Oder – Oder etwas Anderes: Steh ich tagelang staunend
auf der Terrasse und betrachte die maltesischen Häuser, die Vögel als Flecken auf
dem jeden Tag anderen Blau des Himmels und die Farbstufen der Häuser, diese be-
knackte Ruinenromantik drei verschiedener Ockerpigmente.
Wir haben den Körper nicht entblößt: Wir haben ihn erfunden, und er ist die Nackt-
heit, und es gibt keine andere, und was sie ausmacht, ist, fremder zu sein als alle be-
fremdend fremden Körper.
Der Fotograf sagt, in dem Moment, in dem ich das Foto machte – und es war so ein
Licht über den Mädchen und es tanzte die Abenddämmerung mitten auf dem Meer.
Und ich schoss die Fotos, weil – und um ihr die Ärzte, alle nicht richtig erkennbar nur
das Licht und die Geräte für die Belebungsmaßnahmen und es sieht aus als würde
sie – Zwischenraum. Zwischenraum. Zwischenraum.
Das Bild. Einander dich (und nicht „sich“) berühren – oder aber gleichermaßen,
einander Haut.
Vielleicht ist es ja irgendwie auch möglich, die Frage der Verantwortung, der Schuld
außen vorzulassen. Und, wenn ich gegen Abend, beim Lichterfest durch die Straßen
laufe, die jetzt noch märchenhafter erscheint, da jede Straße erleuchtet ist mit Ker-
zenlicht und die kleinen Gassen voll sind mit Menschen, mit lachenden Rufen und
mir unbekannter Straßenmusik, dass alles so verloren in der Zeit erscheint. Und in
jedem Schaufenster Kerzen und Menschen sich bewegen, und das alles seltsam ver-
deckt von den Schatten der Nacht und doch in das flackernde Flammen der tausend
Lichter gehüllt. Da kommen mir die Menschen hier, trotz oder wegen der Lautstärke
und der Sauferei, wie überall sonst, seltsam unschuldig vor. Was haben sie denn
auch getan? Tag für Tag hart gearbeitet, Familien, wenig Geld, Kirche, vielleicht ha-
ben sie mal jemanden belogen oder betrogen. Aber sind viele von ihnen, so wie wir,
nicht irgendwie auch unschuldig, sich nicht bewusst eines Vergehens, sich eher nur
bewusst der kleinen Lügen?
Die Burg der Rettungsorganisation besteht aus erdfarbenem Urgemisch. Jahrhun-
derte altes Gemäuer. Einteilung. Aufteilung. Abgrenzung. Alles an dir erzählt von
gestern. Vom Balkon aus sieht man das Hafenbecken von Yachten gesäumt und der
Blick nach Valletta ist gelber Ocker und weit. Ganz oben auf dem Dach sitzen wir
nachts und rauchen und trinken Bier von Lidl und reden ironisch: Rettungsorganisa-
tionsgespräche.
Das Wasser sind glitzernde Wesen, die die Burgentäler umgeben, sie spielen mit
den Yachten, werfen sie hin und her, her und hin.
Wenn man draußen ist, mit dem Schiff auf dem Mittelmeer, spielen die Delfine mit
dem Bug des Schiffes und manchmal geht die Crew baden im warmen Wasser.
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– kann mich nicht erinnern, wie lang ich nun schon hier bin. Die Tage erscheinen
seltsam gleich und meine Sprache, eine der Unschärfe, der Ungenauigkeit. Ich will
nicht mehr diesen Schleier vor den Augen. Ich klammer mich an Bruchstücke und
forme dann einen Satz zu jedem, der das Haus betritt. Hallo, Wie geht’s Es ist meine
Formel, niemand antwortet, denn das ist nicht wichtig.
Ist der Körper das letzte Gewicht, der äußerste Punkt des Gewichts, das in diesem
Niedergang kippt.
Du hast dann die Zeit verzögert. Sozusagen, hast das Denken selbst weggebrochen
und es zu einem Stillstehen geformt, dir überlegt, was es eigentlich mit Stillstehen
auf sich hat, und ich habe dich nachts, als du schon längst schliefst, gefragt, an wel-
chen Himmel glauben wir? Und lange dann so dagelegen und dem Rauschen der
Mücken und der Klimaanlage gelauscht, und fest daran geglaubt, dass du mich trotz-
dem hörst –
Unweigerlich desaströse Körper: Eklipse und Fall erkalteter Himmelskörper. Sollten
wir den Himmel erfunden haben, einzig, um aus ihm Körper herniederstürzen zu
lassen?
du, ich, dich, mich, dir, mich, wir, euch, ihnen, ich, du, sie,
Die Straße zum Hafen. Dort, wo das Schiff liegt, spiele ich mit den Hunden. Die
Hunde fläzen ihr Fell in der Sonne, rollen sich, hinken. Ich kraule ihre schmierigen
Nacken. Wedelnd ziehen die Hunde lahmende Kreise um meine Waden. Höfliche
Labradormischlinge, die in der Sonne dösen, ihr Fell golden glänzend im Fett. Sie
spielen zwischen Reifenteilen und Plastikcontainern. Die alten Wärmedecken der
Geflüchteten liegen ebenfalls golden oben auf den Containern in zerknüllten Bün-
deln, weggeschmissene Reste der letzten Wochen. Und du hebst vom Schiff aus
müde deinen Kopf zu einem fragenden Blick.
Nachts New Tiger Bar like in Nigeria, New Tiger Bar. Antwortet wer. Irgendwo beim
Schifffriedhof, du streichst meine Hand, wie zufällig, gibst mir ein Bier. Es ist nicht so,
dass wir dazu gehören, die Kids aus Nigeria, Gambia, Guinea, Senegal, Chad, Li-
byen stehen um uns herum, sind freundlich distanziert, sagen, sie wissen nicht wo-
hin, wenn es keinen Ort fürs Leben gibt, wir kaufen Spieße. Sieh an mir vorbei und
schau nach draußen zu den flackernden Lichtern und einen Moment ist es still und
nur der alte Kapitän flüstert geh jetzt tanzen, und für einen Moment erinnere ich mich
in der Stille an die Bilder, die die Kamera auf dem Schiff flackernd filmt und darin an
die Ränder und Lücken, dein Lachen – das, was sie cutten – das, was sich nicht
identifizieren lässt, und der Geruch von Schweiß und Meer steigt mir in die Nase und
wir gehen mit der Crew drinnen tanzen zu amerikanischem Pop –. Bis die Polizei die
New Tiger Bar schließt um fünf Uhr und alle weg sind und nur wir weiß von ihnen
weiß und zu uns sehr freundlich nach draußen geleitet werden.