Hank M. Flemming
Haamit
„Wann müsstn ihr wieder fort?“, fragt sie.
„Oma, mir sin doch grad erst gekomme. Mir bleim noch e wenig do.“
„Aber ze Weihnachten kimmter?“
„Nu klar.“
Ich schiele auf die Wanduhr über dem Küchentisch. Muss ihr eine neue Batterie reinmachen, denke ich, und erschrecke fast, als der Sekundenzeiger sich auf einmal doch ein kleines Stück nach vorne schiebt.
„Weil, dor Oop, der schnauft su viel in letzter Zeit“, sagt sie, „vielleicht packt dersch nimmer bis Weihnachten, un dann hätten mer ja ee Baah ze viel, dos tät noch giehe, dos könnt mer aa noch am Tog drauf assen, aber wenn du ah net do wärscht, dann hätten mer viel ze viel iebrich…“
Dann fällt ihr Blick auf dich.
„Na du, du kast ja eh kaa Flaasch assen. Do wer iech dir wieder e weng Gemiese broten.“
„Oma, sie kann Fleisch essen, sie möchte nur nicht“, sage ich. „Ve-ge-ta-rier!“
Sie mustert mich irritiert.
„Dos du ega su geschwollen daharquatschen musst...“, sagt sie und schüttelt den Kopf. „Bist schu e holber Wessi.“
„Wenn ich Erzgebirgisch mit dir rede, versteht Mareike das doch nicht.“
Du lächelst, ein bisschen gequält, Oma lächelt auch.
„Do kaa iech doch nüschd darfier! Su langsam musses doch mol lerne!“
„Ich gab mir Mühe“, sagst du, und sprichst das „gab“ dabei betont kurz und dunkel aus, obwohl du „gebe“ meinst, im Präsens, wie man das halt so macht im Erzgebirge. Alles eine Oktave tiefer, die Vokale so dunkel wie der Hochwald auf dem Auersberg und die Konsonanten so scharf wie der Rauhreif vom ersten Nachtfrost im August, so habe ich es dir erklärt.
„Als wäre man zehn IQ-Punkte dümmer“, hast du dann immer gesagt, und ich habe es mir komplett abgewöhnt, in deiner Gegenwart Dialekt zu sprechen. Außer, wenn wir Oma besuchen. Sie versteht Hochdeutsch, durchaus, und sie kann es auch sprechen, wenn sie will, aber sie will nicht.
„Jedenfalls, mir kumme an Weihnachten, dos is doch klar. Un wirst sahe, dor Oop wird aah miet am Tisch sitzen, olles wie immer.“
„Nüschd is wie immer. Wos sull dee noch warn aus unnerer Haamit? Alle machen se fort.“
„Aber ze Weihnachten kumme mer wieder!“
„Na, wullmersch hoffen.“
Pause. Oma rührt ihren dampfenden Kaffee um und streicht die Zeitung glatt, die sie auf dem Tisch vor sich ausgebreitet hat. Auf der Titelseite prangt: „Freie Presse“. Und darunter: „Es wird ernst.“
Ich höre, wie sich der Sekundenzeiger weiter voran schiebt.
„Dos mit dan Hitlergruß war net in Ordnung“, sagt sie, packt die Zeitung und rollt sie zusammen.
„Hot der Schdiev wos abkriecht?“, frage ich.
„Nee, war wuhl gar net esu schlimm, wie se im Fernsehen saang. Die ham bluß e weng gegreehlt, un de Linken warn ze wenich, die ham nüschd gemacht.“
„Das sind nicht die Linken, Oma, das sind ganz normale Leute, die halt keinen Bock auf Nazis ham“, sage ich.
„Iech hob ja aa ken Bock auf Nazis“, sagt Oma. „Aber die, die Krawall mochen, do sei immer die linken Chaoten. Frooch doch dein Schwoocher.“
Jetzt rollt sie die Zeitung wieder auf dem Tisch aus.
„Was ist denn mit deinem Schwager?“, fragst du.
„Steve, der Freund von meiner Schwester, der ist bei der Bereitschaftspolizei. Die müssen immer ran, wenn’s Stress gibt. Die letzten Tage auch wieder, in Chemnitz. Hat mal bei ner Pegida-Demo von einem Gegendemonstranten ein blaues Auge geboxt bekommen, weil er das Visier nicht runtergeklappt hatte.“
„Warum hat der Gegendemonstrant ihn geboxt?“, fragst du.
„Weil der kaa Lust mehr hatte, die ganze Zeit geknüppelt ze wern“, antworte ich.
„Weil dos Chaoten sei!“, sagt Oma.
„Das sin die einzigen, die sich den Idioten überhaupt noch in den Weg stellen!“, sage ich, und halte kurz inne, während Oma liebevoll die ausgebreitete Zeitung glattstreicht. An einer Stelle wird sie etwas durchsichtig.
„Hob vergassen, in Tisch abzewischen“, sagt sie.
„Un vergassen, wofier de stist!“, sage ich, leise. Der Kaffee in meiner Tasse dampft unangerührt.
Oma zieht ihre Hände wieder zu sich und reißt die Augen auf.
„Wos soll mer de machen?“, fragt sie, und ihr Zeigefinger unterstreicht die Frage. „Soll iech vielleicht aa demonstriern?“
„Warum nicht?“, sage ich. „Gegen die Nazis!“
„Ich bie doch aa net für die Nazis, aber die sin nu ma die einzschen, die wos machen! Sonst hilft uns doch kaaner!“
„Wobei braucht ihr denn Hilfe?“, fragst du, und Oma schaut dich an, als sehe sie dich zum allerersten Mal. Du erwiderst ihren Blick, und mit jedem Ticken der Wanduhr wird dir klarer, dass du keine Antwort bekommen wirst.
„Iech hob fei aa zwee Brief“, sagt Oma und steht auf. „Do kam schu lang nüschd mehr, aber itze glei zwehe!“
Sie kramt im Plastekörbchen neben der Mikrowelle.
„Hier, aaner von deiner Schul, un aaner vom Arbeitsamt.“
„Achso, ja, dos is wahrscheinlich de Einladung zum Klassentraffen. Mir ham doch dies Gahr Zehnjährches“, sage ich.
„Un dos vom Arbeitsamt?“
„Naja, iech musst mich wieder malden, weil mei Vertrooch doch im Dezamber auslefft“, sage ich, während Oma den Tisch umrundet und mir den Brief reicht.
„Und dann biste arbitslus?“
„Es werd schu weitergieh, aber iech wasses noch net genau.“
„Dos is doch net normal“, sagt Oma. „Frieher hatten mir en Beruf, un den hatten mir. Bums, aus.“
„Ja, dos is halt heite annersch“, sage ich.
„Nur ausgenutzt werste!“, sagt Oma, umrundet den Tisch und setzt sich wieder hin.
„Seit finf Gahrne gieht das itze schu. Befristung, Befristung, Befristung. Un mir warten hier, dass de wieder ehamm kimmst.“
„Oma, wie oft denn noch“, sage ich, und streife deinen Blick. „Ich komm ganz sicher nicht mehr hierher.“
„Wieso de net? Host doch itze dein Abschluss, bist doch e gescheiter Hund!“
„Das is ja das Problem“, sage ich. „Ich find hier nüschd. Hier gibt’s doch nüschd!“
„Driebn in Kams suung se en Psychologen, im Krankenhaus, war gestern in der Zeitung.“
„Drüben in Chemnitz marschieren Nazis, auf offener Straße, ist heute in der Zeitung“, sagst du, und Oma und ich blicken dich an, weil du die ganze Zeit vorher nichts gesagt hast.
„Iech bie doch ah net für die Nazis“ sagt Oma mit knietschigem Unterton und streicht die Zeitung glatt. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich noch keinen einzigen Schluck Kaffee getrunken habe.
„Was heißt das da?“ fragst du und deutest auf den Schriftzug in Fraktur auf meiner Kaffeetasse.
„Deitsch un frei wullmer sei, weil mer Arzgebirger sei“, sage ich.
„Ist das auch so ein Nazispruch?“, fragst du.
„Iech war der glei halfen, Nazispruch!“, sagt Oma, springt auf und fuchtelt mit dem Zeigefinger. „Dos is Volksgut!“
„Anton Günther war... sowas wie ein Liedermacher, vor ungefähr hundert Jahren“, erkläre ich dir. „Er ist in Gottesgab geboren, auf der tschechischen Seite des Erzgebirges. Damals war das Österreich, Habsburgermonarchie. Aber eigentlich war das egal, denn warste Erzgebirger, warste Erzgebirger, egal auf welcher Seite der Grenze. Jedenfalls, zum Studieren isser er dann nach Prag. Dort in der Großstadt hat er die Heimat – de Haamit, wie wir sagen – ganz schrecklich vermisst und angefangen, Lieder über das Erzgebirge zu schreiben. Unter anderem Deitsch und frei, sowas wie die Hymne der Erzgebirger.“
„War er ein Nazi?“ fragst du.
„Gobs doch domals gar net!“, sagt Oma, jetzt wieder mit der zusammengerollten Zeitung in der Hand.
„Die Nazis haben tatsächlich versucht, seine Lieder zu instrumentalisieren“, sage ich, „was ihn zutiefst gestört hat. Hat sich irgendwann umgebracht, aus Kummer darüber, dass seine geliebte Heimat dem Faschismus verfallen war.“
„Also war er heimatliebend, aber kein Nazi?“, fragst du.
„Groode deshalb warer kaa Nazi!“, sagt Oma. „Wenn de die Haamit liebst, dann willste net, doss solche Leit se dir kaputt mochen!“
Deine Finger fahren über die Frakturschrift auf der Tasse.
„Ich versteh euch Erzgebirger einfach nicht“, sagst du.
„Iech aa net“, sage ich, setze die Tasse an und spüre, wie mir der lauwarme Kaffee die Kehle hinunter rinnt.
„Westkaffee“, sage ich und blicke abwechselnd von Oma zu dir, aber keiner lacht.
„Frieher war dos was besonnersch“, sagt Oma. „Heite hammersch olla dooch. Aber besonnersch isses schu lang net mehr.“
Ich schaue wieder zur Wanduhr.
„Die is aa noch Originol“, sagt Oma und meint damit: aus der Vorwendezeit.
„Aus Friedenszeiten, hat mein Mathelehrer immer gesagt“, sage ich.
„Frieden hammer schu lang kann mehr“, sagt Oma und streicht wieder über die Zeitung, auf der Bereitschaftspolizisten in Kampfmontur zu sehen sind, die sich vor einem Demonstrationszug aufbauen. In der zweiten Reihe reckt jemand ein Plakat: „Widerstand!“, dahinter ein anderer: „Heimatfront Erzgebirge!“
„Die glauben echt, es wär wieder 89“, sagt Oma. „De Köhler-Renate von driem, die is ganz aufgeregt, die sagt: Itze isses wieder su weit!“
Ich schüttele entgeistert den Kopf.
„89 sind sie gegen eine Diktatur auf die Straße gegangen. Und heute gegen Kinder in Schlauchbooten, die auf dem Mittelmeer ersaufen.“
„Die ham einen erstochen! Letztes Wochenende, aufm Stadtfest in Kams! Aaner aus Iraag, un aaner aus der Syrei!“
„Syrien, Oma.“
„Wos wess iech, wu der har kimmt. Jedenfalls ham die Ausländer einen erstochen. Und desderweeng ginne die itze olle uf de Stroß.“
„Siehst du, Oma“, sage ich und seufze. „Deswegen will ich nicht wieder hierher zurück.“
„Ich bie doch aa net für die Nazis“, sagt Oma und rollt die Zeitung so fest zwischen ihren Fingern, dass ihre Hände knacken.
„Wenn du hier wärst... Wenn mehr wie du hier wärn, dann täten sich die Nazis das vielleicht olles gar net traue.“
„Mehr wie du?“, fragst du und ein Lächeln huscht um deine Mundwinkel.
„Na, Leid, die uf de Eeberschul gange sei und studiert ham, su Neimolgescheite! Solche täten mir braung, aber die sei doch olle fort gange!“
„Weil ich hier nichts finde, Oma“, sage ich.
„Quatsch“, sagt Oma, und legt die Zeitung wieder aus der Hand. „Wenn de welltst, tätste schu wos finden!“
„Ich will aber nicht, so lange hier Nazis marschieren“, sage ich und zeige wieder auf die Zeitung.
„Die kenne doch bluß marschiern, weil kaaner mehr do is, dar sich dorgegen stellt!“ sagst du, auf feinstem Erzgebirgisch, und Oma und ich blicken dich verwundert an.
Die Wanduhr tickt, und mein Kaffee ist längst ausgekühlt.
„Wir müssen dann mal“, sage ich.
Als wir am alten Geräteschuppen vorbei zum Auto gehen, hältst du inne.
„Da singt einer!“
Schweigend lauschen wir, und auch ich bemerke den Gesang aus dem Schuppen.
„Das kenn‘ ich“, sagst du. „Das ist doch dieser Song, der letztes Wochenende bei der Party in Stuttgart kam!“
Wir gehen zum Schuppen, ich greife nach der Tür, und knarrend gibt sie den Blick ins Innere preis. Opa hockt auf einem Bänkchen und schnitzt, eine Öllampe und ein halbleeres Bier vor sich auf der Werkbank.
„Host du grod gesunge?“, frage ich, während wir uns umarmen und dabei gegenseitig auf die Schultern klopfen.
„Iech? Iech sing doch net! War vellei is Rodschoo!“
„Naja, dann ahm net“, sage ich und wir wenden uns zum Gehen.
„Mocht’s gut, bis Weihnachten!“ ruft Opa uns hinterher.
„Bis Weihnachten!“ antworte ich und wir schieben die Schuppentür von außen wieder zu.
Ich drücke auf die Fernbedienung, das Auto blinkt, du öffnest die Beifahrertür und steigst ein. Ich verharre noch einen Moment und lausche, und dann höre ich es, ganz deutlich:
„...Und wenn ich sterbe, oh ihr Genossen, bella ciao, bella ciao, bella ciao ciao ciao – oh wenn ich sterbe, oh ihr Genossen, bringt mich dann zur letzten Ruh...“1
Oben aus dem Fenster winkt Oma, und ich könnte schwören, sie winkt im Takt von Opas Gesang.