Andrea Grill

Die Gravitation auf der Erde

Sandgebiete mit spärlichem Pflanzenbewuchs. Wandernde Sicheldünen, schwach

befestigte Sande sowie halbfeste Buckelsande. Ja, wirklich, dachte er, man könnte

es versuchen. Er strich mit den Händen leicht über das Heu, nahm eine Handvoll Sägespäne, rieb sie zwischen den Fingern, streute sie wieder ins Terrarium, er richtete

das Laufrad gerade, er füllte frisches Wasser in den flachen Becher, der einmal ein

Eierbecher gewesen war, einer aus einem Set von vier, Geschenk der Kollegen aus

seiner Abteilung, damals. Die Körner auf der Untertasse aus Porzellan waren unberührt, Sonnenblumen, die magst du doch, säuselte er in einem eine Oktave über seiner üblichen Stimmlage liegenden Register, Weizen, Dinkel, Mais, vereinzelte Haferflocken, das schmeckt dir doch. Seine Stimme quietschte, unter dem Heu rührte sich

nichts. Fehlt lediglich dort, wo der Sand mit einem festen Pflanzenbewuchs überzogen ist, sowie in den häufig in Sandgebieten vorkommenden Salztonebenen. Er roch

an seinen Fingern, ein leichter Geruch nach Trockenheit, vergorenem Leben – auch

nach Freiheit, unbeaufsichtigten Faulenzersommern irgendwie. Such dir einen

Coach, einen Blick von außen, lass dich umschulen, finde etwas, das dir liegt, eine

völlig neue Perspektive. Was er jetzt plötzlich in seinem Inneren gefunden hatte, war

eindeutig, ein einziges Wort, es besaß weder Schatten noch Schwere, war geruchlos

wie geschliffenes Mineral, versprach Unkompliziertheit, Direktheit, wenig Kontakt zu

Menschen. Ein Wort, vorerst nur ein Wort, aber er hatte es gefunden. Ohne jegliche

Vorkenntnisse. Ohne Coach. Sucht die Nähe von Erbsenstrauch, Sand-Segge, Reitgras. Blick von außen brauchte Rafael keinen. Er hatte selbst eine Ausbildung zum

Coach absolviert, einen Begabtenlehrgang für IT-Management außerdem, dreijährig,

mit Berufspraktikum. Er hatte ein Team von dreißig Leuten geleitet, sofern solche Bezeichnungen noch angebracht waren – Leitungsfunktion, dachte man da nicht an Kabel, metallische Halbleiter, Dioden, Valenzband? Ich habe mein Bestes gegeben, das

musste doch gesagt werden dürfen? Bewohnt vereinzelt zwanzig bis dreißig Meter

hohe Sicheldünen, deren windabgewandte Seite mit Wermutkraut bewachsen ist.

Derzeit war sein Team auf ein Mitglied beschränkt, und das kam seit Tagen nicht aus

dem Bau. Rafael hockte mit einem einschlägigen zoologischen Lexikon vor dem Terrarium,

sang Lockie vor, ein paar Verse aus einem Kinderlied; seine Tochter hatte das eingeführt, um sie zu wecken, sanft, sodass sie sie ihren Freunden zeigen konnte, mit ihr

angeben, schaut, ich habe ein Haustier, ätsch, so funktionierte das offenbar bei Kindern, da musst du etwas haben, was die anderen nicht haben, der erste sein, und bei

ihr hatte das bisher immer geklappt. Jetzt, wo das Kind weg war und Rafael die alleinige Verantwortung für Lockie trug, blieb es still im Terrarium, Gesang hin oder her.

Wurde auch in der Nähe von Pappeln, Meerträubel, Salpeterstrauch und Tamarisken

beobachtet, las Rafael in dem Buch auf seinem Schoß. Er drehte das Laufrad mit

zwei Fingern, pfiff dabei, das Rad haperte, er holte Öl, bemühte sich so lange, bis die

Umdrehungen geräuschlos und glatt wurden. Lockie, bitteschön, alles zu deiner Verfügung. Über Fressfeinde mit Ausnahme der Waldohreule ist wenig bekannt. Na

schau, hier gibt’s nicht mal Eulen. Ob es möglich war, dass sie die anderen vermisste, es ihm übel nahm, dass nun er sich um sie kümmerte, während bisher die

anderen das erledigt hatten und er sich kaum um sie scherte? Die anderen sind nur

weg, nicht fort, Lockie, sagte er zu dem Heu unter seiner Hand.

Bei seinem letzten und einzigen Interview in diesem Jahr hatte man ihm die Frage

gestellt, ob er empfindlich reagiere auf Gerüche. Es war online gewesen, er hatte

sich trotzdem ein neues Hemd dafür gekauft und eine Hose, die keine Jeans war,

und bis heute verstand er die Frage nicht und ob seine Antwort schuld daran gewesen war, dass er nicht in die zweite Runde gelangt war. Nicht sehr, hatte er zögernd

zugegeben, aber ob es nun das Zögern gewesen war, die angedeutete relative Unempfindlichkeit, die Kürze seiner Antwort, oder ob diese so aus dem übrigen Gesprächsverlauf hervorstechende Frage keinerlei Bedeutung für die Entscheidung der

Kommission gehabt hatte? Er würde es nie erfahren. Er wusste nur, es war die letzte

Frage gewesen, und kaum zwei Minuten später hatten sie sich von ihm verabschiedet. Digital, versteht sich. Ein Sekret der Bauchdrüse spielt beim Markieren des Reviers eine Rolle. Kot ist weder bei der zwischengeschlechtlichen noch bei der territorialen Kommunikation entscheidend. Das Interesse am Kot ist aber bei beiden Geschlechtern im Sommer groß. Eins wusste er, wäre das Vorstellungsgespräch anders

verlaufen und hätte er den Job bekommen, würde noch immer nicht er sich um Lockie kümmern, säße er jetzt nicht mit einem sechshundertseitigen zoologischen Lexikon auf den Knien am Boden. Das Interesse der Tiere an den Ausscheidungen variiert während des Jahres, Urin ist dabei für das andere Geschlecht am anziehendsten. Männchen schnuppern zu allen Jahreszeiten länger am Urin des Weibchens, Weibchen hingegen nur im Frühling und Sommer am Urin des Männchens. Papa,

hau mir eine runter, damit ich weiß, dass ich wach bin, würde sein Kind sagen,

wüsste es von dem Tierlexikon, sie griffe sich an den Kopf mit einer der in dem Alter

noch hinreißend übertriebenen Gesten, wirklich, hau mir eine runter in echt – gerade

weil Valerie wusste, er mochte solche Sprüche nicht, benutzte sie sie – dabei könntest du das doch einfach im Internet nachschauen, Papa.

Will ich aber nicht. Wenn das Weibchen paarungsbereit ist, bleibt sie beim Laufen

häufiger stehen und hebt ihr Schwänzchen an. Seine Shorts spannten plötzlich,

schnitten ihm in den Schritt, dieses blöde Buch turnte ihn an, er schlug damit versuchsweise gegen sein Glied, das machte es nicht besser, er war steif wie ein Einser, der Reißverschluss ließ sich schwer öffnen, ein loser Faden war darin verwickelt;

als er an seine Frau dachte, die er seit zwanzig Jahren konsequent Freundin nannte,

stieg ihm die Schamröte ins Gesicht. Rafael schloss den Deckel des Terrariums

sorgfältig.

*

Wir müssen ein bisschen aufpassen, dass wir uns nicht alle daran gewöhnen, dass

wir ohne Arbeit leben können – so etwas stand mittlerweile nicht nur in den Zeitungen; das stand überall. Das stand allen ins Gesicht geschrieben. Das sagten sie alle.

Alle, die er hörte, zumindest. Kathrin hatte es gesagt und in der Grammatik dieser

Überschrift das persönliche Fürwort ausgetauscht – dass du dir das Arbeiten nicht

abgewöhnst –, hatte diese oder eine sehr ähnliche Wendung bestimmt einmal pro

Woche irgendwo eingeflochten, in Unterhaltungen, die zu etwas ganz anderem hätten führen können, in vielversprechende Richtungen, auf den Markt, zu einer Wanderung, einem Kinofilm, einem neuen Computerspiel, aber zackkkk, hackte so ein Satz

wieder zu. DASS DU DIR DAS ARBEITEN NICHT ABGEWÖHNST.

Es blieb etwas Unerlaubtes in der unwiderlegbaren Tatsache, sich derzeit in keinem

Angestelltenverhältnis zu befinden, ohne Vertrag mit einer lohnauszahlenden Institution, eine Nuance von Sorglosigkeit zu empfinden und unter anderem das Potenzial

zu Erfreulichem zu sehen, ins Freie hinaus, wenn das Wetter schön ist, eine Runde

um den See am Dienstagvormittag, wenn du dort der einzige bist, bei Musik bis zum

Anschlag stundenlang am Boden liegen. Ja, aber ein Jahr, bitte, mehr als ein Jahr ist

es mittlerweile! Katrin warf ihm nichts vor, sie stellte fest, zog Konsequenzen. Nicht

nur unerlaubt: geradezu ans Verbotene grenzend. Der Mensch braucht Arbeit, ein Naturgesetz, offenbar eigentlich eine Folge der Evolution – also natürlich. Rafael

spürte das bei jedem der spärlichen Gespräche, die er führte; sogar oder eigentlich

besonders mit Freunden. Er lebe so, wie keiner leben sollte, wie die anderen schafften, ihm das zu vermitteln, ohne es auszusprechen, wusste er nicht, aber er wusste:

So ist es. Ich lebe, wie ich nicht leben sollte: beschäftigungslos. Dabei bin ich fortwährend beschäftigt, aber nicht beschäftigt genug.

DEFINITION VON BESCHÄFTIGUNG: eine Tätigkeit, für deren Ausübung du vertraglich

vereinbarte Geldbeträge erhältst, möglichst monatlich. Sonst ist es im Grunde wieder

nichts. Eine Art Almosen, das zählt nicht.

Mitleid, ja, spürte er auch, las er in den leicht tränenden Augen derer, die ihn ansahen. Der Sünder dauerte sie, denn eine Sünde war es, was er tat bzw. nicht tat, darin

bestand kein Zweifel.

WEITERE DEFINITIONEN:

Erwerbstätigkeit = Tätigkeit zur Einkommenserzielung

Beschäftigung = Tätigkeit zur Sicherung des Lebensunterhalts

Beruf = mit besonderer Fähigkeit oder spezieller Qualifikation ausgeübte Erwerbsarbeit.

Arbeit = aus dem Mittelhochdeutschen ar(e)beit = schwere körperliche Anstrengung,

Mühsal, Plage.

Nun ja.

Rafael war als Pole geboren. Das merkt man aber nicht, hatte Kathrin immer behauptet, du hast null Akzent, höchstens den eines Rheinländers – bis sie nahtlos

dazu übergegangen war, ihm zu einem Sprachcoaching zu raten. Nach zwanzig Jahren. Da hatte es ihm die Sprache tatsächlich (kurz) verschlagen. Ich wähle hier seit

fünfunddreißig Jahren, hatte er gemurmelt, nicht damit rechnend, sie würde das

überhaupt wahrnehmen. Aber: Das ist etwas anderes, hatte sie gezischt. Er hatte bis

dahin gar nicht gewusst, dass sie dazu fähig war. Zischen, seine sanfte, verträumte

Kathrin. Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine „ungeheure Warenansammlung“, die einzelne

Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse

der Ware.

Rafael besaß auch andere Bücher als das zoologische Lexikon. (Natürlich, er hatte

einen Magisterabschluss.) Dieses hier hatte er aus einem der offenen Bücherschränke, wie sie in Kniehöhe in dem einen oder anderen Park standen, stößt du dir

keine blauen Flecken daran, bückst du dich hinunter und schaust, was drin ist, ob du

was brauchen kannst. MARX, DAS KAPITAL. Kathrin hatte es besessen, als sie einander kennenlernten, dann bald hinausgeworfen, bei einem der ersten Umzüge. Rafael

schnappte es sich aus dem kniehohen Regal, steckte es in seinen Rucksack, las es

fortan, wenn er allein in der Wohnung war, es beruhigte ihn. Ein Gebrauchswert oder

Gut hat also nur einen Wert, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist. Wie nun die Größe seines Werts messen? Durch das

Quantum der in ihm enthaltenen „wertbildenden Substanz“, der Arbeit. Die Quantität

der Arbeit selbst mißt sich an ihrer Zeitdauer, und die Arbeitszeit besitzt wieder ihren

Maßstab an bestimmten Zeitteilen, wie Stunde, Tag usw.

1867, acht Jahre nach Darwins „Origin“, war „Das Kapital“ erschienen. An einem seiner beschäftigungslosen Tage, die einander interessanterweise weniger glichen, als

die Tage, an denen er noch regelmäßig ins Büro gegangen war, kam Rafael der Gedanke, die beiden könnten einander gekannt haben, Charles und Karl, noch dazu

derselbe Vorname, und noch dazu lebten beide in London.

Es könnte sein, daß der Wert einer Ware durch das während ihrer Produktion verausgabte Arbeitsquantum bestimmt ist, je fauler oder ungeschickter ein Mann, desto

wertvoller seine Ware, weil er desto mehr Zeit zu ihrer Verfertigung braucht.

Die Schwerkraft ist es, die mich so fertig macht, sagte er zu dem Psychologen, den

ihm die Bundesagentur für Arbeit neuerdings zur Seite stellte. Stellen Sie sich vor,

wie es wäre, würden nicht dauernd die Handtücher von den Heizkörpern rutschen,

wenn Sie sich nur den Handrücken trocken wischen wollen, Tassen würden nicht

umkippen, die Zeitung nicht in den Matsch fallen und auch nicht das gerade gekaufte

Tabakpäckchen in der Pfütze landen, der Mantel rutschte nicht vom Kleiderhaken auf

den ungeputzten Boden, das frisch getoastete Marmeladebrot fiele nicht mit der verkehrten Seite auf die Fliesen. Undundund, sagte Rafael.

Der Mann ihm gegenüber sah ihn an wie ein sehr fremdes Objekt, ein Meteorit, ja

Rafael fühlte sich in dem Moment zum ersten Mal in seinem Leben als Festkörper

kosmischen Ursprungs, auch dass ein Teil seines glühenden Inneren beim Eintritt in

die Erdatmosphäre verglüht war, empfand er deutlich. Die Nützlichkeit eines Dings macht es zum Gebrauchswert. Aber diese Nützlichkeit schwebt nicht in der Luft.

Durch die Eigenschaften des Warenkörpers bedingt, existiert sie nicht ohne denselben. Der Warenkörper selbst, wie Eisen, Weizen, Diamant usw., ist daher ein Gebrauchswert oder Gut.

Nehmen Sie Medikamente, brauchen Sie welche?

Meine Hausärztin hält mich für gesund. Ich gehe zur Untersuchung, ja, regelmäßig, Rafael nickte auf die noch nicht gestellte Frage zuvorkommend.

Die Arbeit jedoch, welche die Substanz der Werte bildet, ist gleiche menschliche Arbeit, Verausgabung derselben menschlichen Arbeitskraft.

Sport? Der Psychologe arbeitete eine Liste ab, ließ ihn nicht gehen, bevor er

nicht alle Kreuzchen und Häkchen ausgefüllt hatte.

Darum geht es nicht, aber: Ja, ich laufe. Rafael schüttelte den Kopf, nickte mit

dem Kopf, ich bin ein Hampelmann, habe keine Wahl, er war ehrlich: Worum es geht,

das ist meine Familie, sie wollen, dass ich etwas tue, Teil der produktiven Gesellschaft bin, der arbeitenden Meute, ich kann nicht anders, Sie verstehen, was ich

meine, nicht wahr? Der Mann war Rafael nicht sympathisch, und trotzdem musste er

offen sein zu ihm, so offen wie noch nie zu einem Menschen (dieses Thema betreffend), auch Antipathien konnte er sich nicht mehr erlauben als Arbeitssuchender.

Ich denke, es ist schlicht mein Alter.

Sein Gegenüber sah ihn fragend an.

Mein Geburtsdatum steht in den Unterlagen.

Diskriminierung ist am Arbeitsmarkt nicht gestattet, entgegnete der Mann, ohne

irgendeine Regung zu zeigen, schon gar nicht, was das Alter betrifft.

Schon gar nicht. Was sollte dieses Schon-gar-nicht jetzt wieder heißen?

Ich bin kein Arbeitsvermittler, das wissen Sie. Der Psychologe machte Anstalten,

ihn hinauszukomplimentieren, er erhob sich, trat ans Fenster; Rafael stemmte die

Füße auf den Boden vor seinem Stuhl, einen letzten Trumpf hatte er noch auszuspielen.

Ich habe innerhalb von dreizehn Monaten hundertelf Bewerbungen geschrieben,

und abgeschickt, wissen Sie, wie oft man mich zu einem Gespräch eingeladen hat –

Interview nennen die das jetzt überall, als wäre ich ein Künstler, den ein Journalist zu

seinem Werk befragt – na, was glauben Sie, wie oft? Ich sage es Ihnen, ein Mal, ein

einziges Mal. Die gesamte Arbeitskraft der Gesellschaft, die sich in den Werten der

Warenwelt darstellt, gilt hier als eine und dieselbe menschliche Arbeitskraft, obgleich

sie aus zahllosen individuellen Arbeitskräften besteht.

Vorerst musste er sich um Lockie kümmern; er sang für sie, sie rührte sich nicht.

Nachdem es drei Tage her war, dass er sie zuletzt gesehen hatte, wagte er es doch,

den Berg aus Heu und Sägespänen abzutragen, unter dem sie versteckt sein

musste. Aus dem Terrarium zu entwischen, war unmöglich für alles, was dicker war

als ein Bindfaden. Behutsam trug er die Schichten ihrer Wohnung ab, unter dem Heu

Rindenstückchen, darunter Sägespäne; er begann dort, wo er zuletzt ihre Nase gesehen hatte, eine Papprolle mit zwei aufgeklebten Glubschaugen – das sei der

Haupteingang, war er instruiert worden – und hier war Lockie die wenigen Male, die

er sie gesehen hatte, tatsächlich aus- und eingeschlüpft. Er entfernte vorsichtig ein

wenig Heu, zog die Rolle aus dem Sägespänehügel, nichts geschah, er sah seine

Hände, wie sie runde weiche Stellen aufspürten, mit Fetzchen aus Klopapier ausgelegt, irgendwie lebendig wirkende Wohnhöhlen, als hätte das Tier außer seiner Form

auch seine Energie dort hinterlassen, er sah seine Hände zittern, fand vertrocknete

Gemüsestücke, Schalen von Sonnenblumenkernen, eine angeschimmelte Apfelschale, viele völlig intakte Samen in einer Mulde – ihr Vorratslager, ebenfalls gespickt

mit Papierfetzchen. Betrachten wir nun das Residuum der Arbeitsprodukte. Es ist

nichts von ihnen übrig geblieben als die gespenstige Gegenständlichkeit, eine bloße

Gallerte unterschiedsloser menschlicher Arbeit, d. h. der Verausgabung menschlicher Arbeit ohne Rücksicht auf die Form ihrer Verausgabung. Diese Dinge stellen

nur noch dar, daß in ihrer Produktion menschliche Arbeitskraft verausgabt, menschliche Arbeit aufgehäuft ist. Als Kristalle dieser ihnen gemeinschaftlichen Substanz sind

sie Werte – Warenwerte. Tiefer und tiefer, teilweise blind, um die Oberflächen intakt

zu lassen, tastete er hinein in den Lebensraum dieses ihm dadurch sekündlich mehr

und mehr ans Herz wachsenden Tieres, immer wieder war ihm, als könne er den

warmen Kreislauf, das rasende Herz schon fühlen. Zentimeter um Zentimeter ergründete er das Terrarium, das ihm auf diese Weise riesig vorkam, in einem Flash empfand er sich selber als furchtsames Geschöpf in einem mit Naturresten gefüllten

Raum – bis er Lockie fand. Lockie ähnelte dem Wesen, das er vor wenigen Tagen

von seiner Tochter übernommen hatte, kaum; vor allem bewegte sie sich nicht, sie

lag auf der Seite, leicht gekrümmt, die Pfötchen schlaff eingerollt, weißbehaart. Dort

berührte er sie, an den Krallen, die schliffen mit einem zarten Kratzen über seine Fingerkuppen. Lockies Schnurrhaare erzitterten leicht – von seinem Atem, sie selber atmete nicht. Die Furcht lebt im Magen. Rafael wusste das. Er stürzte aufs Klo, übergab sich, er kannte das seit Langem, von Gängen zu Ämtern, von seiner Schulzeit,

von der Zeit, als sein Vater ihn noch anschrie, und besonders von den Stunden, in

denen Kathrin und Valerie unlängst ihre Koffer packten. Kaltes Wasser. Über die Ellbogen. Auf die Stirn. In den Nacken. Trinken trinken trinken. Rafael hob Lockie heraus, hielt sie in der hohlen Hand.

Tierpfleger – dieses Wort, das gerade noch nach rettender Lösung geklungen hatte,

verlor schlagartig jegliches Charisma. Also doch ein Coach. Coach wie Couch. Jede

dieser individuellen Arbeitskräfte ist dieselbe menschliche Arbeitskraft wie die andere, soweit sie den Charakter einer gesellschaftlichen Durchschnitts-Arbeitskraft besitzt und als solche gesellschaftliche Durchschnitts-Arbeitskraft wirkt, also in der Produktion einer Ware auch nur die im Durchschnitt notwendige oder gesellschaftlich

notwendige Arbeitszeit braucht. Lockie lag auf seiner Hand in derselben Stellung wie

in ihrem Nest. Rafael trug sie zur Couch, wollte sich setzen, spürte einen zweiten

Stoß in der Magengegend, legte sie auf Valeries Lieblingspolster ab, bedruckt mit einem Rotkehlchen, Lockie lag auf der orangeroten Kehle.

Als er zurückkam, fiel ein Sonnenfleck genau auf die Stelle. Das muss ich Valerie erzählen. Es wird sie trösten, sie die Liebhaberin von Sonnen. Mein Vater war Schuhmacher, meine Mutter Sekretärin beim Chef einer großen Fabrik. Ich bin in Krakau

geboren. Es ist eine schöne Stadt. Bitte, wo muss ich mich anstellen? Danke sehr.

Ich habe meine Schulbildung hier erlangt. Mögen Sie auch hohe Bäume so gerne?

Seine ersten Sätze auf Deutsch waren grammatikalisch sofort perfekt gewesen. Du

hast ein Talent, hatte seine Lehrerin gesagt. Was soll ich damit anfangen, möchte er

sie jetzt noch einmal fragen? Was soll ich damit tun?

Bevor Valerie in die Schule kam, hatten das Universum und seine Sonnensysteme

sie eine gewisse Zeit lang fasziniert. Fragen über Fragen hatte sie ihm dazu gestellt,

von denen er keine Ahnung hatte, wie sie darauf kam, weder er noch Kathrin machten sich solche Gedanken oder redeten über irgendetwas, das über das Irdische hinausging. Eine Frage hatte das Kind ihm einmal sieben Tage lang jeden Tag beim

Abendessen gestellt und jeden Tag so, als wäre es das erste Mal, als wäre sie ihr

gerade eingefallen, und wenn er darauf hinwies, dass er gestern schon geantwortet

habe, hatte sie das vehement bestritten, laut und untröstlich gebrüllt, sie wolle das

wissen, er habe ihr noch nie darauf geantwortet. Papa, auf welchem Planeten unseres Sonnensystems gibt es noch Wasser, außer auf der Erde? Rafael hatte eigentlich bezweifelt, dass so ein zweiter wasserhaltiger Planet vorhanden sei; aber das kleine Mädchen hatte darauf beharrt, sie wisse es hundertprozentig, er hörte sie das

noch sagen, hundertprozentig, mit aller ihr verfügbaren Kraft in der Stimme, die tief

gewesen war für ein Kind, ganz und gar nicht piepsig: Irgendwo gibt es noch Wasser

in unserem Sonnensystem außer bei uns. Dann frag den, der dir das erzählt hat,

nicht mich.

Rafael war nicht immer ein geduldiger Vater. Wer ist das schon? Damals hatte Kathrin ihn noch beruhigt, noch zu ihm gehalten. Am zweiten Abend war er vorbereitet

gewesen. Am dritten Abend hatte er fast routiniert geantwortet, manche Saturnringe

bestehen zur Gänze aus gefrorenem Wasser; am vierten Abend hatte er professionell bestätigt: Einige Ringe des Saturns bestehen vollkommen aus Eis; am fünften

Abend hatte er lachend gesagt: Der Saturn, er ist umringt von riesigen Eiskugeln aus

einer enormen Eiskugelmaschine. Valerie hatte damals sehr gelacht, hatte sich am

Boden gewälzt und dann gesagt, mein Bauch schmerzt. Gesellschaftlich notwendige

Arbeitszeit ist Arbeitszeit, erheischt, um irgendeinen Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen. Ob sie

am Saturn höher hüpfen würde als auf der Erde, hatte sie nie gefragt; die Schwerkraft hatte sie nicht interessiert, Springen auch nicht, damals nicht zumindest. Ab einem gewissen Alter hatten sie über Sonnensysteme einfach nicht mehr gesprochen.

Eine Bewegung, ganz nah. Eine Anwesenheit im Zimmer, die nicht von ihm stammte.

Lockie saß auf dem Schnabel des Rotkehlchens, putzte sich die Schnauze.

*

Da stand Kathrin vor ihm, sie begrüßten sich wie Fremde, ein leichtes Aufeinandertreffen der locker geballten rechten Fäuste. Als er sie so sah, wildes Haar, immer ungekämmt, wie sie die Hand nach der Berührung sofort wieder in die Hosentasche

stopfte, fiel ihm ein, wie seine Tochter sich einmal im Kellerabteil versteckt hatte, sie

war noch relativ klein gewesen, ein echtes Kind, während sie jetzt eine Jugendliche

zu nennen wäre, fast eine junge Frau, sie bekam schon ihre Periode, ihr erstes Mal

hatte er miterlebt, war selbst zum Drogeriemarkt gegangen, um ihr Monatsbinden zu

holen, weil Kathrin in der Arbeit gewesen war, Valerie hatte dieses Ereignis damals gelassen hingenommen, wie die lang erwartete Tatsache, die es war, es hatte ihn erstaunt, dass sie keineswegs bestürzt schien, weder beschämt noch ekelgeschüttelt,

nichts von dem, was er darüber gelesen gehabt hatte, war eingetreten, nüchtern

hatte sie sich bedankt, als er ihr die Packung gab, war zehn Minuten im versperrten

Badezimmer geblieben, er hatte aber kein laufendes Wasser gehört, dann war sie

herausgekommen mit leicht nach oben gezogenen Mundwinkeln, der Anflug eines

Lächelns, hatte ihn gefragt, ob er ihr Kakao kochen würde, sie wolle sich ein wenig

hinlegen – bei der Sache mit dem Verschwinden war hingegen eine kleine Uneinigkeit, er wusste nicht einmal mehr, worum es genau gegangen war, ein Missverständnis im Grunde genommen, die Ursache gewesen, da hatten sie zwei Stunden nach

ihr gesucht, bis Kathrin in den Keller gegangen war, um ein Glas Oliven zu holen, wir

müssen essen, hatte sie erklärt, und weil im Kühlschrank kaum mehr was war, war

sie hinuntergegangen, er hatte sie herzlos gefunden, musste er sich bis heute eingestehen, hatte verlangt, sie sollten die Polizei rufen, dürften keine Zeit verlieren, während Kathrin sagte, warten wir noch, bevor es dunkel wird, taucht die bestimmt wieder auf, und drei Minuten später hatte sie das Mädchen gefunden, vor dem Regal mit

den Einweckgläsern auf einem Stapel Altpapier sitzend mit den Fingernägeln den

Lack von ihren Leki-Skistöcken kratzend.

Rafael bat seine Frau, die er Freundin nannte, wenn er von ihr sprach, sich doch hinzusetzen, er würde ihr etwas zu trinken bringen, trinken ist jedenfalls gut. Kathrin verbrannte sich die Zunge an dem Kaffee, verbiss es sich aber, sich etwas anmerken zu

lassen. Seit dem Mittagessen, fasste sie zusammen, wir haben ganz normal miteinander gegessen, sogar ein bisschen feierlich, weil sie eine überraschend gute Note

auf die ersten Schularbeit dieses Jahres hatte, sie schien aufgekratzt, fröhlicher als

üblich, wir haben uns Witze erzählt – du kennst ihre Witze, was ist braun und spaziert durch den Wald? Brotkäppchen, unwillkürlich musste er doch grinsen, dann war

sie plötzlich weg, endete Kathrin, ihr Telefon hat sie dagelassen. Zwei steile Falten

zwischen ihren Augenbrauen, die kannte er noch nicht. Oder habe ich sie schon

lange nicht mehr angesehen?

Weil du die Heizung so niedrig stellst – sie wird in Winterschlaf gefallen sein, für Lockies Wiederauferstehung hatte Kathrin sofort eine Erklärung parat. Die Sonne hat

sie aufgewärmt, du musst das Terrarium an einen wärmeren Ort stellen.

Ihre Tochter sei in den letzten Wochen oft nicht in die Schule gegangen, sogar als

wir noch hier gewohnt haben, alle zusammen, kannst du dir das vorstellen, wir haben

es beide nicht gemerkt, ihre Englischlehrerin hat mich angerufen, weil Englisch doch ihr Lieblingsfach ist, das hätte sie normalerweise um keinen Preis freiwillig versäumt,

und tagelang hat sie fast nur Nutella gegessen, das wusste ich, dachte mir aber, ich

sollte dem nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken, dann würde es vorübergehen.

Sie hat doch heute mit dir gegessen, nicht? Und was ist schon normal, darüber brauchen wir doch nicht zu reden, da sind wir uns doch noch einig.

Valerie macht sich Sorgen um dich, Rafael, das weißt du?

Wozu um mich? Ich bin ihr Vater.

Damals, als sie aus dem Kellerabteil heraufgekommen war, hatte sie nicht unzufrieden gewirkt, in ihren Jogginghosen mit den in Fallschirmchen hängenden Mäusen

darauf. Eher ausgeruht, hatte sich mit überkreuzten Beinen auf seinen Drehstuhl gesetzt und mit einem Zahnstocher farbige Lackstückchen unter ihren Fingernägeln

herausgekratzt, sich dabei auf dem Stuhl hin und her gedreht.

Als er die Türe zum Keller öffnete, fand er den Lichtschalter nicht sofort, er starrte

kurz ins Dunkel, sie war also nicht da, denn um nicht auf die Zeitschaltuhr angewiesen zu sein, die alle sieben Minuten die Beleuchtung unterbrach, hätte sie sich bestimmt ein Lämpchen mitgenommen. Es roch gut hier unten, war warm, die Heizkörper an der Wand liefen bereits. Dieser Keller war kein Ort zum Angsthaben, er war

der Vorrats- und Lagerraum von Kleinfamilien, die zusätzlichen Quadratmeter, die

ihnen in den Wohnungen fehlten, kürzlich erst frisch gestrichen, die Trennwände zwischen den Abteilen helles Holz, ein Material, das sich die meisten auch oben in ihren

Wohnzimmern vorstellen hätten können, nicht nur Sportzubehör, Weinflaschen und

überzählige Möbel wurden hier aufbewahrt, manche hatten Kleiderschränke stehen,

in die sie im Sommer die Winterklamotten und im Winter die Sommerklamotten

räumten, an manchen Tagen war es im Keller regelrecht belebt, es kam zu kleinen

Tauschaktionen und Miniflohmärkten.

Mit weißgelber Schärfe machte das Licht augenblicklich alles sichtbar, Ecken, Kanten, Gegenstände – übergossen mit Senf, ungehörig die Welt so zu zeigen, dachte

Rafael, welcher Verbrecher hat die Elektrizität erfunden, gleichzeitig überzeugt, hier

kann sie nicht sein; dann erblickte er durch die Holzstäbe des Abteils, zu dem er den

Schlüssel in der Hand hielt, ihre Schuhe in unpassender Höhe, darüber die Beine,

auch viel zu hoch, als es im Gravitationsfeld der Erde möglich ist.